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Wie Freiwild in der Heimat

 
     
 
Anfang Oktober 1944 hatten wir unseren Hof in Unter-Eißeln an der Memel mit einem von zwei Pferden gezogenen, vollbeladenen Fluchtwagen verlassen. Im Frühling 1945 machten wir uns, aller Habe beraubt, zu Fuß auf den Weg dorthin zurück. Wir waren auf unserer Flucht in der Nähe von Danzig von den Russen überrascht worden. Weiter in Richtung Westen zu gelangen glückte uns nicht. Sobald wir es versuchten, trieb man uns zurück. Sowohl die sowjetisch
en Soldaten wie auch die polnische Zivilbevölkerung verhielten sich in dieser Zeit keineswegs harmlos. Also schlugen wir den Weg nach Hause ein. Mit Bündeln auf den Rücken, die auf unserem Fußmarsch immer wieder von sowjetischen Soldaten ausgeplündert wurden.

Wir bewältigten täglich ungefähr eine Strecke von 30 Kilometern. Das war für mich als Kind von gerade acht Jahren bei all den Ängsten und der Trostlosigkeit, ohne ein wünschenswertes oder auch nur bekanntes Ziel für die Nacht vor Augen zu haben, jeden Tag von neuem eine Qual. Und die Häuser, die wir zum Übernachten anstrebten, waren außerdem oft genug noch wahre Stätten des Grauens. Wir bemühten uns immer um weit von

der Landstraße entfernt gelegene Nachtquartiere, weil wir uns davon einige Sicherheit vor Überfällen durch die Soldaten erhofften. So auch an jenem späten Abend, an dem wir schon drei weit voneinander entfernt gelegene Gehöfte aufgesucht hatten, sie aber wieder verlassen mußten, da es dort kein brauchbares Wasser gegeben hatte: In den Brunnen schwammen Tierkadaver.

Auf dem Hof, den wir dann spät abends und todmüde erreichten, war der Brunnen sauber. Aber tiefes Entsetzen bemächtigte sich unser überall. In einer Stube lag eine tote Frau mit einem toten Säugling auf dem Sofa. Auf der Diele der Scheune trat ich, als ich Stroh für das Nachtlager holen sollte, fast auf einen toten Mann, der, nur mit Getreidehalmen abgedeckt, dort lag. Hinter der Scheune lagen zwei weitere tote Männer. Und ein Stück vom Haus entfernt in einem Graben eine tote Frau.

Wir aber durften den nächsten Morgen erleben und weiterziehen. Eines Tages waren wir dann auf diesem gefährlichen Weg der Heimat näher gekommen. Die ersten altbekannten Orte tauchten auf. Wenn auch alle Wegweiser fehlten, hatten wir dennoch gut zurückgefunden.

Am Abend eines sonnigen Maientages erklommen wir die kleine landschaftliche Erhebung, hinter der unser alter Hof lag. Die Herzen jagten vor Erregung. Und die auf dem so lange währenden Rückweg immer brennende Frage, ob die Gebäude noch erhalten geblieben waren, vor allem das Haus, steigerte sich jetzt zu einer kaum zu schildernden Spannung.

Endlich gab die Anhöhe den Blick auf das Anwesen frei. Haus und Stall schienen unbeschädigt. Von der Scheune fehlte indes die gesamte Schalung. Nur die Verstrebungen des Gebälks hielten die noch vorhandenen Erntebestände zusammen. Unsere Schritte wurden schneller. Wir liefen fast den Berg hinunter und den Zufahrtsweg entlang. Dann standen wir wieder auf unserem Hof. Wir waren zu Hause! Trotz aller Bedrohungen, denen wir nach wie vor ausgesetzt sein würden, erfüllte uns ein tiefes Glücksgefühl.

Die Tür des Hauses stand offen. Wir traten ein. Bewegt gingen wir durch die Räume. Die Möbel waren noch vorhanden. Die Fensterscheiben alle ganz. Auch in unserem Brunnen war nichts zu entdecken. Aber aus einem Graben, der zu dessen Drainage gehörte, mußte eine tote Kuh geborgen werden. Und auf den Feldern nahe unserem Gehöft lagen sechs tote deutsche Soldaten und ein russischer Gefallener. Sie alle mußten schnellstens unter die Erde. Helfen konnte uns niemand. Die Gehöfte rundum waren leer.

Unser Leben verlief in diesen Tagen und Wochen ohne nachbarschaftlichen Beistand, und ohne jegliche andere Regelung oder Versorgung. Wir lebten ohne irgendein Geschäft, ohne Amt, ohne Post, ohne Lehrer, ohne Pfarrer, ohne Arzt, ohne Schutz, ohne Recht. Wir waren völlig auf uns selbst gestellt. Freiwild gewissermaßen. Jederzeit aller Unbill des noch währenden Krieges ausgesetzt. Die Angst war nach wie vor allgegenwärtig. Noch lange behielten wir zum Schlafen unsere Kleider an, um immer sprungbereit zu sein. Aber wir schliefen wieder in unseren Betten.

Mutter verließ in der ersten Zeit unser Gehöft jedoch so gut wie gar nicht. Wenn sie über den Hof mußte oder in den Garten wollte, tat sie es als alte Frau verkleidet. Näherten sich dem Hof sowjetische Soldaten, versteckte sie sich eiligst im Heu oder im Stroh von Stall oder Scheune. Immer wieder wurden wir belästigt. Und jedesmal mußte mit dem Schlimmsten gerechnet werden.

Einigermaßen aufatmen konnten wir erst, als sich auf dem etwa einen Kilometer entfernten Gut zusammen mit einem deutschen Kriegsgefangenenlager eine sowjetische Kommandantur niederließ, deren sehr deutschfreundlicher Kommandant uns und die vereinzelten inzwischen ebenfalls zurückgekehrten Bewohner unseres Dorfes zu schützen versprach. Damit nahmen die Überfälle rapide ab. Und wenn uns sowjetische Soldaten dann und wann noch heimsuchten, öffneten wir trotz ihrer Gewaltgebaren nicht mehr die Tür, sondern drohten mit der Kommandantur. Fast immer erfolgreich.

Allmählich trauten wir uns nun auch etwas weiter vom Hof weg. Wir wagten uns ins Dorf, zum Friedhof und auch zum Strom. Auf ihn hatten wir einige Hoffnung hinsichtlich unserer leiblichen Versorgung gesetzt. Aber es war eine Enttäuschung. Der Fischreichtum der Memel lag zu einem Teil in voller Vielfalt aufgedunsen im Ufersand. Darunter armlange Welse, die wir allzu gern mitgenommen hätten. Wenn die Russen fischten, warfen sie Handgranaten in den Strom, und die Fische wurden wahllos hinausgeschleudert. Als Großvater sich endlich traute, angeln zu gehen, war die Ausbeute mehrerer Stunden ein einziger Fisch von ungefähr 15 Zentimetern. Der Fluß schien so gut wie leergefischt zu sein.

Was wir zum Leben hatten, waren die im Keller verbliebenen noch von uns im Herbst 1944 eingebrachten Kartoffeln, Wruken, Beeten und Runkeln und das ungedroschene Getreide aus Fackbereichen, die von Schnee und Regen nicht beeinträchtigt waren. Wir droschen mit Flegeln und reinigten das Dreschgut mit Wind und Pusten wie anschließendem Verlesen der Körner. Gemahlen wurden sie dann auf der Kaffeemühle. Langwierig war es, bis wir genug Mehl für Brot zusammen hatten. Roggenkörner wurden außerdem zum Rösten benötigt, um uns dann gemahlen als Kaffee-Ersatz zu dienen.

Sauerampfer, Beeren, Pilze und das, was wir uns an Eßbarem mit dem Spaten im Garten angebaut hatten, bereicherten zu gegebener Zeit zusätzlich unsere Mahlzeiten. Aber alles gelangte ohne das geringste bißchen Fett auf den Tisch. Haustiere, die es uns hätten liefern können, gab es nicht. Nur Ratten und Mäuse zeigten sich um uns herum in schockierender Menge. In der Klappfalle, die vor dem Schlafengehen regelmäßig in der guten Stube aufgestellt wurde, fanden wir eines Morgens sieben Ratten gleichzeitig. Und die Mäuse liefen uns, wenn wir uns um den Tisch in der Küche zu einer Mahlzeit gesammelt hatten, manchmal an den Beinen hoch in ihrer Gier nach dem, was auf dem Tisch stand. Wir selbst hatten nach einiger Zeit auch noch täglich von neuem Grund, uns darüber zu freuen, daß das, was wir aßen, noch gekocht werden konnte, denn wir besaßen nicht ein einziges Streichholz mehr und zu finden oder zu kaufen waren nirgends welche. Das Feuer wurde durch die Glut eines eingeäscherten Briketts über Nacht erhalten und stets gehütet, damit es auch tagsüber ja nicht ganz erlosch.

Unsere Heilmittel suchten wir uns in der Natur. Gegen fast alles Inwendige mußte Kamille helfen, wie auch für manche Umschläge. Für Magenkrankheiten schlimmer oder chronischer Art gab es lediglich Wermuttee. Offene Wunden, die nicht heilen wollten, wurden in Kaddiksud (Wacholder) gebadet und mit Wegerichblättern statt mit Salbe belegt. Geschwüre und Entzündungen mußten von allein ausschwären, ganz gleich welcher Art und wie groß sie waren. Manch einer, der in die Heimat zurückkehrte, starb bald an Unterernährung. Meine eigene Großmutter und meine Großtante noch im selben Jahr unserer Rückkehr. Die Särge zimmerte ihnen Großvater aus einfachen Brettern, die Gruften auf dem Friedhof hob er ebenfalls selber aus. Und waren die Gräber zugeschaufelt, wurden sie nicht selten von den Soldaten wieder aufgewühlt, die Särge aufgebrochen und die Toten oft ausgekippt. Auch gegen diese "Schatzsuche" war man machtlos, wie gegen alles in jener Zeit.

Auf der Flucht: Kinder und Frauen waren oft auf sich allein gestellt.
 
     
     
 
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