A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

Wie ein versunkenes Vineta

 
     
 
Das 1994 gefeierte 450. Gründungsjubiläum der Königsberger Albertus-Universität hat nicht die von vielen erwartete Gesamtdarstellung der ostdeutschen Alma mater gezeitigt, die man neueren Arbeiten über west- und mitteldeutsche Hochschulen an die Seite stellen könnte. Besonders die mit dem Ersten Weltkrieg beginnenden Jahrzehnte der Albertina sind bis heute ein weißer Fleck auf der wissenschaftshistorischen Landkarte geblieben. Dieses Desiderat bietet daher viel Raum für Legenden, die über die Albertina als "Grenzlanduniversität" in Umlauf
sind und die ihr im aktuellen Historikerstreit um die "NS-Vergangenheit" von Theodor Schieder und Werner Conze unvermutete Aufmerksamkeit bescheren.

Dabei fließen, trotz hoher Kriegsverluste, noch ergiebige Quellen, deren Erschließung solcherart Legendenbildung durchaus den Boden entziehen könnte. Dazu zählen nicht zuletzt jene in zwanzig Leitz-Ordnern überlieferten, gut 2000 Briefe an den Kurator Friedrich Hoffmann, die der höchste Verwaltungsbeamte der Universität zwischen Januar 1945 und seinem im März 1951 erfolgten Tod erhielt. Sie stammen von der in alle Winde verstreuten "Universitätsgemeinde", die den Ordinarius und den Dozenten, die Assistenzärztin und den Laboranten ebenso einschloß wie die Bibliothekarin und den Pförtner. Diese Briefe spiegeln zwar überwiegend das Erlebnis von Flucht und Vertreibung aus Königsberg und Ostdeutschland, dokumentieren die Ungewißheiten und Entbehrungen der ersten Nachkriegsjahre im geteilten Deutschland, geben Aufschlüsse über die kaum vorstellbaren Schicksale des in der Festung Königsberg verbliebenen, dann von den Sowjets dort bis 1948 festgehaltenen Universitätspersonals, verraten aber auch, im Briefwechsel über die Probleme der anlaufenden "Entnazifizierung", einiges über die politischen Konstellationen, die die angeblich so "braune Ostuniversität" vor 1945 prägten.

Zusammen mit seiner Gattin hatte Hoffmann das schon unter sowjetischem Beschuß liegende Königsberg am 28. Januar 1945 verlassen. Fast 48 Stunden benötigte der alte Herr, der zehn Tage zuvor noch seinen 70. Geburtstag gefeiert hatte, um mit dem Zug ins fünfzig Kilometer entfernte Pillau zu gelangen, wo das Ehepaar Platz auf einem Minensuchboot fand, das sie nach Gotenhafen brachte. Von dort nahm sie ein anderes Minensuchboot nach Swinemünde mit, wo die von Erna Hoffmann mit preußischem Understatement so genannte, durch Eis, Nebel und Minensperren verzögerte und gefährdete "Dienstreise" am 8. Februar endete. An der nahen Universität Greifswald richtete Hoffmann dann weisungsgemäß einen "Meldekopf" ein, eine Art Notverwaltung der Albertina, die er Mitte April 1945 nach Flensburg verlegte. Mit Billigung der englischen Besatzer führte er dort seine Arbeit auch nach dem 8. Mai fort. Im Sommer 1946 wechselte er innerhalb der britischen Zone nach Göttingen, wo sein Bürovorstand, der Niedersachse Werner Schütz, der bis Ende März 1945 in Königsberg ausgeharrt hatte, wieder im Amt war, und wo die akademische "Logistik" einer Universitätsstadt das Koordinierungs- und Beratungsgeschäft der Königsberger "Meldestelle" wesentlich erleichterte.

Die Flensburger Zeit stand noch ganz im Zeichen des Sammelns und Ermittelns von Nachrichten über das Schicksal der Universitätsangehörigen. Als "Ostflüchtling" selbst in beengten Verhältnissen untergekommen, beschwert mit der Trauer über zwei gefallene Söhne, lange im Ungewissen über den Verbleib seiner in Kärnten dienstverpflichteten Tochter, belastet auch mit der Krankheit seiner Frau, verkörperte "der Kurator" bald wieder so etwas wie den Mittelpunkt einer Universität im Exil. Aus den Flüchtlingslagern in Dänemark, aus Kriegsgefangenenlagern wie aus ländlich-unversehrten Zufluchtsorten liefen Nachrichten ein, die Hoffmann für die "Familienzusammenführung" verwertete. Ein fast nachbarschaftlich dichtes Kommunikationsnetz entstand bereits im Sommer 1945, da viele Dozenten in Schleswig-Holstein gelandet waren: Der Volkskundler Anderson in Kappeln an der Schlei, der Archivdirektor Hein, der Chemiker Sonn und Prähistoriker La Baume in oder bei Schleswig, der Slawist Rammelmeyer in Kiel, der Historiker Schuhmacher in Friedrichstadt, der Gynäkologe Mikulicz-Radecki in Eutin, der letzte Prorektor, Emil Lang Direktor des Instituts für Wirtschaftslehre des Landbaus, der Ende März seinen Posten geräumt hatte, in Rendsburg.

Nach und nach, allen Widrigkeiten des Postverkehrs zum Trotz, sickerten Einzelheiten über den Leidensweg der in Königsberg Verbliebenen durch. Die rechtswissenschaftlichen Ordinarien Nolte, Capelle, Horneffer, Richter, Schnorr von Carolsfeld, Maurach und der Universitätsbaurat Hans Gerlach waren als Wehrmachts- oder Volkssturmangehörige dort im April 1945 in sowjetische Gefangenschaft geraten, aus der der Staatsrechtler Reinhold Horneffer vermißt seit dem 6. April und der Arbeitsrechtler Lutz Richter, der sich als Professor zu erkennen gab, nicht mehr zurückgekehrt sind. Der Slawist Meyer hatte mit Frau und Tochter darauf bestanden, in der Festung zu bleiben, eine Entscheidung, die alle drei mit ihrem Leben bezahlten. Der Zivilrechtler Georg Schüler, im Herbst 1944 schwer erkrankt, war nicht transportfähig und kam in den ersten Tagen der Russenherrschaft um. Kurt Munier, Honorarprofessor in der Landwirtschaftlichen Fakultät, wollte seinen Besitz Schloß Holstein nicht verlassen, fiel in russische Hand und starb im Dezember 1946 im Zentralkrankenhaus ZKH. Paul Bolbeth, seit 1910 Laborant am Chemischen Institut, starb entkräftet im April 1947.

Der emeritierte Ordinarius für Augenheilkunde Arthur Birch-Hirschfeld, bis zum Januar 1945 noch privat praktizierend, starb auf der Flucht in Danzig, ebenso sein Kollege, der Chemiker Heinrich Klinger, 82 Jahre alt, der am 1. März 1945 im Raum Heiligenbeil den Strapazen der Flucht erlag. Der Philosoph Arnold Kowalewski, gleichfalls schon im Rentenalter, begab sich zwar rechtzeitig im Herbst 1944 zu Verwandten in die Lausitz, ging dort aber ein Jahr später an Unterernährung zugrunde. Bei Waren, in der vermeintlichen Sicherheit Mecklenburgs, erlebten Ehefrau und Tochter von Wilhelm Grimmer, Direktor des Milchwirtschaftlichen Instituts, die apokalyptischen Umstände des Russeneinfalls und vergifteten sich: "Es muß sich dort Entsetzliches ereignet haben", bekam Hoffmann im Dezember 1945 zu lesen. Conrad Lehmann, Oberfischmeister der Provinz Ostdeutschland und Leiter des Fischerei-Instituts der Universität, seine Assistentin Frau Dr. Krüper sowie der Botaniker und gelernte Apotheker Kurt Mothes hatten Aufgaben bei der Seuchenvorsorge bzw. in der Sanitätsversorgung übernommen. Lehmann entließ man im Sommer 1945 aus dem Lager Georgenburg bei Insterburg, Krüper traf 1947 schwerverletzt in Berlin ein, während Lehmanns Frau noch in Königsberg ums Überleben kämpfte. Mothes, dessen nach Mecklenburg geflüchtete Frau der Kurator über Jahre hinweg zu unterstützen bemüht war, kehrte erst 1949 aus einem sibirischen Waldarbeitslager zurück. Weniger "Glück" hatten Mothes’ Kollegen, der Chirurg Walter Hetzar, der Pflanzenkundler Alfred Volk und der Historiker Ernst Keit, die schon während der Belagerungszeit Kampfhandlungen zum Opfer fielen. Sie verlängerten die Totenliste der Albertina, auf der sich viele Geisteswissenschaftler wie die Historiker Kasiske, Weber-Krohse, Sielmann, Schoenborn, Läwen, die Prähistoriker Sierke und Lüttje-Janssen, der Geograph Giere, der Pädagoge Buttgereit, die Theologen Schleiff und Vogelsang, die Volkskundler Wiens und Pohl oder die Nationalökonomen Falkenhahn und Wahl finden, die fast alle im Osten gefallen sind.

Der Rektor Hans Bernhard von Grünberg, der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der Zoologe Heinz Lüdtke, der Althistoriker Kurt Stade, der Volkswirtschaftler Michael Rosenberg und der Universitäts-Inspektor Gerhard Kaesler durchlitten viele Jahre russischer Kriegsgefangenschaft.

Der Historiker Herbert Grundmann und der Theologe Hans Michael Müller entkamen verwundet aus dem Kessel von Heiligenbeil; ebenso entgingen der Gefangenschaft mit knapper Not der Theologe Erich Engelbrecht, der letzte Universitätsprediger, der beim stellvertretenden Generalkommando in Königsberg Dienst tat, der Philosoph Gunther Ipsen, Augenzeuge des von den Sowjets verübten Massakers von Metgethen, im Festungsbereich als NS-Führungsoffizier Verbindungsmann zur Gauleitung, und der Soziologe und Frontoffizier Helmut Schelsky. Nach abenteuerlicher Odyssee über Neukuhren und Pillau erreichte die Anglistin Herta Marquardt, die zunächst im Ostseebad Rauschen Zuflucht gefunden hatte, den Westen: "Etwas verhungert, aber sonst wohlbehalten" – wie sie Hoffmann meldete.

Irmgard Holtzheimer, Jahrgang 1922, Hilfskraft des Zivilrechtlers Nolte, verließ Königsberg am 22. Januar 1945, wurde mit ihrem Konvoi kurz vor Elbing von russischen Panzern überrollt, schlug sich ins heimatliche Korschen durch, machte dort Bekanntschaft mit NKWD-Praktiken und entkam schließlich Ende 1945 aus der Gewalt der mittlerweile dort herrschenden Polen. Den umgekehrten Weg, von West nach Ost, ging die junge Kinderärztin Margarete Siegmund, eine Samländerin, die im Juni 1945 freiwillig nach Königsberg zurückkehrte, um dort bis 1947 im ZKH zu wirken. Die Mediziner der Albertus-Universität stellten überhaupt das größte Kontingent der gut 70 Universitätsangehörigen, die Hoffmann nach dem 9. April noch in Königsberg vermutete. Über die Zustände in den provisorisch hergerichteten Kliniken der Stadt sind wir dank der "Aufzeichnungen" Hans Graf von Lehndorffs "Ostdeutsches Tagebuch" leidlich unterrichtet. Zudem hat der Österreicher Wilhelm Starlinger, Leiter der beiden Seuchenkrankenhäuser St. Elisabeth und Yorck, seine Erfahrungen über das "Leben und Sterben" in der Stadt zu Papier gebracht – nachdem er 1954 aus sowjetischer Lagerhaft zurückgekehrt war. Der Kurator erhielt zunächst nur spärliche Informationen darüber, daß der Gynäkologe Franz Unterberger und der Internist Gerhard Joachim bald nach der Kapitulation der Festung den Freitod gewählt hatten. Arthur Böttner, 1917 habilitiert und mithin fast drei Jahrzehnte als Dozent an der Albertina tätig, leitete bis 1947 das ZKH ehemals Krankenhaus der Barmherzigkeit. Wenige Tage vor seinem Abtransport in den Westen erlag er im Dezember 1947 einem Herzschlag. Über den Verbleib des Kinderarztes Fritjof Erben, dessen Frau mit ihren sieben Kindern in Kühlungsborn Unterschlupf fand, erfuhr der Kurator Näheres im Juli 1946: Erben leitete unter Böttner die Kinderabteilung des ZKH. Er und Wolfgang Hoffmann, 1926 in Königsberg für Augenheilkunde habilitiert, gelangten mit kleineren Transporten Mitte 1947 nach Mitteldeutschland. Erbens Chef, Phi-lipp Bamberger, der am 24. Januar zusammen mit Mikulicz-Radecki, die beide ihre Kliniken nach Westen evakuieren wollten, von der Gestapo von Bord der "General Martinez" geholt worden war, verschlug es mit seiner Assistentin Renate Collier im April 1945 von Königsberg nach Preußisch Holland, wo sie ein Seuchenkrankenhaus leiteten, bevor sie sich im Herbst 1945 absetzen konnten. Über Hans Schubert, seit 1937 am Hygienischen Institut, 1945 Leiter des Medizinalunterschuchungsamtes der Festung, berichtete seine Frau dem Kurator zu Weihnachten 1945, daß er Böttners innere Abteilung übernommen habe. Geschwächt kam Schubert 1948 aus Königsberg heraus. Er starb drei Jahre später mit 45 Jahren, als ihm gerade der berufliche Neuanfang geglückt war.

Während nicht wenige Mediziner den Triumph der später so genannten "Befreier" bis zur bitteren Neige auskosteten, liefen von den Naturwissenschaftlern insoweit günstigere Nachrichten in Flensburg ein, als sie mit ihren kriegswichtigen Laboratorien 1944 nach Mittel- und Süddeutschland ausgelagert worden waren und sie – nach dem Ende des Luftterrors – in der amerikanischen Zone nicht um Leib und Leben fürchten mußten. Das in Ilmenau unter Kurt Walter Merz arbeitende Pharmazeutisch-Chemische Institut wurde sogar von der aus Thüringen abziehenden US-Armee komplett nach Heidenheim abtransportiert.

 
     
     
 
Diese Seite als Bookmark speichern:
 
     
     
     

     
 

Weitere empfehlenswerte Seiten:

Es geht um unsere Identität

Wenig Interesse

Interview mit Gesamtmetall-Chef Martin Kannegießer

 
 
Erhalten:
 

 

   
 
 
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
WISSEN48 | ÜBERBLICK | THEMEN | DAS PROJEKT | SUCHE | RECHTLICHE HINWEISE | IMPRESSUM
Copyright © 2010 All rights reserved. Wissensarchiv