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Aufstand gegen das Brüsseler Machtkartell

 
     
 
Die Gründe für das Nein der Franzosen und Niederländer gegen den Europäischen Verfassungsvertrag hat der Präsident Tschechiens, Vaclav Klaus, vor einigen Wochen in einem Interview in der FAZ treffend zusammengefaßt: "Die Gefahr besteht darin, daß sich Europa von Demokratie und Freiheit löst." Die Europäische Union entwickele sich zu einer postdemokratischen Institution mit enormen demokratischen Defiziten. Für Leute, "die in Venedig frühstücken, in Dublin zu Mittag essen und am Abend in Stockholm dinieren, ein Paradies. Aber die normalen Leute müssen dagegen sein." Klaus weiß, wovon er spricht. Über 40 Jahre Zugehörigkeit Tschechiens zum Sowjetimperium
bezähmen die Lust, es nun mit einem neuen Imperium der Großkonzerne und Großbanken zu versuchen, mit ähnlicher Nichtachtung der Interessen der "kleinen Leute" und einer neuen Staatsreligion des allein ökonomischen Fortschritts ohne Anker in Kultur und Geschichte, wieder regiert von einer volksfremden Nomenklatura, der nichts anderes einfällt als Regulierung, Zentralisierung, Planung und Lenkung.

Das Nein der Franzosen und Niederländer gegen das Europa des Brüsseler Typs ist ein Aufstand, eine Revolte breiter Schichten gegen Bevormundung und Manipulation von oben, der Aufstand des pays réel gegen das pays légal, des wirklichen Volkes gegen die politische Klasse und Institutionen, die sich in Brüssel und Straßburg immer mehr von den Realitäten der Menschen entfernt haben. Das Urteil des Frankreich-Korrespondenten der FAZ, Jürgen Altwegg, verdient Aufmerksamkeit: "Das Nein der Franzosen zu Europas Verfassung ist eine Revolte gegen die Verfilzung von Medien und Politik. Die Presse läßt nur ein Ja gelten, wer widerspricht, wird diskreditiert. Frankreich weiß jetzt, worum es geht."

Seit dem Umbruch 1989/1990 vollzog sich in Europa ein stiller Verfassungswandel von der nominell fortbestehenden freiheitlichen Demokratie zur Herrschaft eines neuen Machtkartells der Kommandohöhen der Wirtschaft, der Medien und der politischen Parteien, in denen zumeist kleine oligarchische Zirkel entscheiden in einem von den Medien besorgten konformistischen, stickigen, sanfttotalitären Meinungsklima, in dem die Pläne der Regierenden "mit moralisch bewehrtem Befehl" (Herbert Kremp) durchgedrückt werden. In Deutschland nennt man das seit längerem Political Correctness. Der Verfassungsvertrag soll diese neue Verfassungswirklichkeit zu einer uneinnehmbaren Festung ausbauen, ungeachtet der ideellen und materiellen Kosten. Er hat die Hoffnungen und das Vertrauen der Bürger Europas in die europäische Zukunft nahezu auf den Nullpunkt ruiniert.

Die breiten Schichten erleben ganz praktisch und hautnah die voranschreitende Teuerung seit der Einführung des Euro, die Hilflosigkeit der Nomenklatura gegen die Arbeitslosigkeit und den Arbeitsplätzeexport, die zunehmende Verarmung schon bis in die Mittelschichten hinein. Sie erleben den Kontrast zwischen dem Marketing der Politik und der Medien für dieses Europa als der angeblich besten aller möglichen Welten, zu der es "keine Alternative" gäbe, und der Realität ihres alltäglichen Lebens. Sie haben sich nun in Bewegung gesetzt gegen die oberflächlichen "Quicouistes", wie die Franzosen sagen, die Jasager in Medien und Politik, ihre dauernde Bevormundung und Manipulationspraxis, ihre Schönfärberei der Lage, den Ausbau ihrer Machtpositionen auf dem Rücken der Vielen.

Was bei der Mehrheit der Menschen handfeste Alltagserfahrung ist, aus der sie ihre selbständigen Schlüsse zieht, wird von den Wissenschaftlern, die sich gegen den Verfassungsvertrag wenden, mit Argumenten untermauert. Sie betonen, wie sehr der Vertrag im abgehobenen Konvent im Konsens-

verfahren unter Beifallsbekundungen der Repräsentanten der Politischen Klasse durchgepeitscht wurde und schon im Prozeß seiner Entstehung der demokratischen Legitimation entbehrte. Professor Karl Albrecht Schachtschneider spricht von der berechtigten Furcht der Menschen vor den Auswirkungen einer betont neoliberalen Wirtschaftspolitik, die den "Markt" in klassischer Manier "vergöttlicht" und die soziale Verpflichtung des Staates als Anwalt der Res Publica zurückdrängt und gerade auch an dieser Stelle die Wirtschaftsverfassung des deutschen Grundgesetzes außer Kraft setzt. In seiner Klageschrift gegen den Vertrag vor dem Bundesverfassungsgericht unterstreicht Schachtschneider die für Deutschland verfassungswidrige radikale Freiheit des Kapitalverkehrs wie im Arbeits- und Dienstleistungsrecht, die den weiteren Niedergang des Wirtschaftsstandorts Deutschlands zur Folge haben wird. Hinzu kommt die Schwächung des deutschen Grundrechtsschutzes durch die Grundrechts-Charta des Verfassungsvertrages vor allem bei der Sozialpflichtigkeit des Eigentums und im Blick auf das Recht auf Arbeit. Vom Europäischen Gerichtshof ist in dieser Hinsicht in Zukunft wenig zu erwarten. Gravierend ist schließlich auch der weitgehende Verlust der Verteidigungshoheit der Mitgliedsstaaten durch die Integration der Streitkräfte in eine europäische Verteidigung mit einer entsprechend anonymen und hochbürokratischen Kommandostruktur. Eine finanzpolitische Generalklausel ermöglicht der Union, europäische Steuern zu erheben und weitere Kategorien der Mittelbeschaffung einzuführen ohne Zustimmung der nationalen Parlamente. Ein wesentliches Problem bleibt generell die Aushöhlung der Staatlichkeit der Mitgliedsstaaten und ihrer demokratisch-parlamentarischen Verantwortung zugunsten der beiden Führungsorgane der Union, des Europäischen Rates und der Kommission, deren letztere den undemokratischen Charakter dieses staatsrechtlichen Monstrums ohne Staatsvolk am deutlichsten zum Ausdruck bringt.

Blickt man auf die hoffnungsvollen Ansätze des europäischen Projekts nach dem Zweiten Weltkrieg und seine großen Gründungsväter Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi zurück, so werden die Fehlentwicklungen schlagend deutlich, denen dieses Projekt seitdem unterlegen ist, jener zentralistische, technokratische und bürokratische Weg, der "Europa" so sehr bei den Menschen und Bürgern diskreditiert hat und den sie nicht länger mitgehen wollen, weil sie in diesem Europa nicht mehr ihr Europa erblicken können. Kein Geringerer als der enge Mitarbeiter der Gründungsväter Jean Monnet hatte schon in den 60er Jahren eingestanden, es sei ein Fehler gewesen, die Europapolitik nach dem Krieg mit der Wirtschaft und der Industrie begonnen zu haben, anstatt mit der Kultur und der Geschichte. Die Neigung, an die Stelle der dringend notwendigen Ideenimpulse "Prozedurenseligkeit" zu setzen (Christian Geyer in der FAZ) ist daraus entstanden, und das vorläufige Ende im Verfassungsvertrag, der aus dem "Elitendünkel, der Arroganz und politischen Instinktlosigkeit" (Michael Jeismann, FAZ) des Brüsseler Machtkartells entstand, ist nur die Konsequenz aus diesen Fehlentwicklungen, von denen natürlich immer weniger Faszination auf die Menschen ausgehen konnte.

Die Konsequenz aus dem Nein der Franzosen und Niederländer gegen den Verfassungsvertrag kann nur in einer gründlichen Selbstkritik der Politischen Klasse in Europa bestehen, mag diese Tugend gerade dort auch nicht allzu verbreitet sein. Es ist ja nicht so, daß die Neinsager nur aus "ewiggestrigen" Nationalisten, Souveränisten und Kommunisten bestünden. Ihre Mehrheit betont, daß ihr Nein wahrhaft pro-europäisch ist. "Wir müssen Nein sagen, damit Europa unsere Union bleibt", hören wir aus Holland. Das ist die eigentliche Chance, die freilich die Politische Klasse begreifen muß. Die Menschen wollen nicht, daß "Europa" Freiheit und Volkssouveränität einengt, gar abschafft. Sie haben sich gegen Bevormundung und Manipulation entschieden, die sich spürbar in der Brüsseler Machtzentrale und allem, was dazu gehört, ausgebreitet hat. Es gilt, den im Gang befindlichen Verfassungswandel, so die Nein-

sager, gerade noch rechtzeitig zu stoppen, bevor der Punkt ohne Umkehr erreicht wird. Die Menschen haben erkannt, daß dieses Brüsseler Europa der Ausdruck eines technokratischen Machbarkeitswillens ist, eines unvernünftigen säkularistischen Menschen- und Weltbildes, das nichts Gutes bewirken kann und wird. Die Wende hat sich zu vollziehen, weg vom blinden Glauben an nur materielle Quantitäten und ihrem Größenwachstum hin zu den Qualitäten menschlicher Kultur, zu den humanen und christlichen Tugenden. Ein System muß falsch laufen und im Leerlauf enden, das alles aus dem Blickwinkel organisatorischer, finanzieller und bürokratischer Quantität beurteilt, anstatt die geistigen, seelischen, religiösen und kulturellen Faktoren und Bedürfnisse der Menschen zu achten, zu entbinden, zu fördern. Die auch und gerade im Brüsseler Europa zum Ausdruck kommenden Tendenzen der Moderne, der Machbarkeit der Sachen, der Zivilisierbarkeit des Menschen und der Vollendung der Geschichte (Hans Freyer) bergen allesamt letztlich totalitären Sprengstoff und bedürfen der bewußten Gegenwirkung und Zähmung. Und hieran hängt nicht zuletzt das politische Grundproblem unserer Tage: die Wiedergewinnung des Vertrauens zwischen den Bürgern und ihren Repräsentanten, zwischen Wählern und Gewählten, die Glaub-Würdigkeit der letzteren. Und das alles hat natürlich auch institutionelle Folgen, insbesondere die Abkehr von der Prämisse "big is beautiful", also von der in Brüssel grassierenden Tendenz zur - kontraproduktiven - Zentralisierung. Ohne die Rückgabe vieler überflüssiger Kompetenzen an die Mitgliedstaaten, Regionen, Länder, Kommunen unter dem letzthin ziemlich aus der Mode gekommenen Stichwort der "Subsidiarität" wird der notwendige Neubeginn, den die Menschen wollen, nicht möglich werden. Nur in dieser Richtung wird der Ausweg auch aus den Brüsseler Sackgassen zu suchen sein.

Das Nein der Mehrheit in den beiden europäischen Gründungsstaaten ist ein unmißverständliches Stop-Signal auf dem falschen Weg, den die Europäische Union vor allem in den letzten Jahren eingeschlagen hatte. Die Menschen haben erkannt, daß ein Europa des immer größer, immer zentraler, immer mächtiger nicht ihr Europa ist. Sie wollen keinen europäischen Schmelztiegel als einen geschichts- und gesichtslosen weltpolitischen "Großraum" unter anderen, sondern einen Kontinent mit europäischem Gesicht, in dem ihre nationalen und kulturellen Identitäten erhalten bleiben, die kostbare europäische Überlieferung weiterhin blühen und wachsen kann, die Vielfalt sich nicht zu verstecken braucht, sondern als menschlicher und kultureller Reichtum verstanden wird, in dem der Mensch nicht zum Sklaven und Funktionär des wirtschaftlichen Wachstums herabgewürdigt wird, sondern letztlich Herr der Wirtschaft bleibt. Die Formel, die die neuen Wege beschreibt, die begangen werden müssen, mag vielen banal klingen, sie bleibt dennoch für die notwendige Reform des großen europäischen Projekts richtungweisend: So viel Einheit wie nötig, so viel Vielfalt wie möglich.

 Werbelauf: Nachdem die niederländischen Umfragewerte für die EU-Verfassung so schlecht ausgefallen waren, hatte sich der holländische Premier Jan Balkenende sogar selbst in die Straßen Amsterdams begeben, um die Bevölkerung umzustimmen. Doch die blieb bei ihrem "Nee".
 
     
     
 
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