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Estland: Euroblau und Sowjetrot

 
     
 
Auf dem Weg Estlands in die Europäische Union konnten vor kurzem zwei wichtige Meilensteine gesetzt werden.

Der erste betrifft das heikle Kapitel Landwirtschaft, bei dem bekanntlich auch die Regierung in Reval (Tallinn) Widerstand gegen den am 30. Januar verkündeten Agrarplan der EU-Kommission angemeldet hat.

Hartnäckig betont sie, daß eine schwerwiegende Wettbewerbs
ungleichheit vorläge, wenn Neulinge in der Union erst nach zehn Jahren den gleichen Umfang an landwirtschaftlichen Subventionen erhielten wie die Altmitglieder.

Nicht zuletzt angesichts dieses Unmuts wollte die EU-Kommission ein Zeichen setzen, als man entschied, daß die Union gegenüber Estland als erstem Beitrittsanwärter so gut wie alle Beschränkungen des Agrarhandels beseitigt.

Sofern der Brüsseler Ministerrat der am 2. April beschlossenen Aufhebung von Zöllen zustimmt, tritt das sogenannte "Double-Profit"-Abkommen am 1. Juli in Kraft.

Es sieht die völlige Streichung der Zölle auf Obst, Gemüse, Säfte, Schaffleisch u. a. vor, während bei Getreide, Milchprodukten, Eiern, Rind- und Kalbfleisch bestimmte Einfuhrkontingente abgabenfrei bleiben. Bei letzteren Erzeugnissen wird Brüssel hinsichtlich Estlands auf alle bestehenden Exportsubventionen verzichten.

Die Agrarverhandlungen mit Reval gestalteten sich zumindest in einer Beziehung vergleichsweise einfach: Estland hatte - anders als die übrigen neun EU-Kandidaten - bereits zuvor weitgehend auf Einfuhrenzölle und -kontingente verzichtet.

Auch mit Ungarn und der Tschechischen Republik konnten diesbezüglich in jüngster Zeit Verhandlungsfortschritte erzielt werden, verlautete aus Brüssel.

Dagegen beharrt insbesondere Polen auf seiner strikten Schutzzollpolitik, hinter der eine einflußreiche Bauernlobby steht (vor allem die in der Linksregierung vertretene EU-kritische Polnische Volkspartei und die aus der Opposition drohende EU-feindliche Bauernunion "Selbstverteidigung").

Was Estland angeht, wurde das Verhandlungskapitel "Zölle" vielmehr durch die Vorbehalte Revals im Hinblick auf das geforderte Ende des Verkaufs zollfreier Waren auf estnischen Fähren erschwert.

Erst am 2. April erklärte Außenministerin Kristiina Ojuland gegenüber der nationalen Arbeitgebervereinigung, daß ihre Regierung die Versuche aufgebe, hier eine sechseinhalbjährige Übergangszeit zu erreichen.

Damit könnte das Zollkapitel demnächst abgeschlossen werden, allerdings um einen hohen Preis: Laut Berechnungen, die von der Estnischen Vereinigung der Reisebüros in Auftrag gegeben wurden, drohten jährliche Einbußen von über 200 Millionen Euro.

Vor allem die zollfreien Fähren von Reval nach Helsinki und Stockholm sind im vergangenen Jahrzehnt üppige Devisenbringer gewesen und erfreuten sich besonders bei sonst aus Kostengründen alkoholentwöhnten Skandinaviern großer Beliebtheit.

Dieser für das kleine Land beachtliche Touristenstrom könnte künftig im wahrsten Sinne des Wortes "trockengelegt" werden. Die wirtschaftlichen Folgen wären weitaus größer als bei dem von Brüssel verordneten Aus für die "Butterfahrten" an den deutschen Küsten.

Um der innenpolitischen Kritik am Einlenken der Regierung die Spitze zu nehmen, deutete Außenministerin Ojuland inzwischen an, man könne dem Vorbild der nordischen Länder folgen und den Fährgesellschaften Entschädigungen zahlen.

Ob sich durch solche staatlichen Almosen die in Estland enorm große Zahl der EU-Gegner (ihr Anteil schwankte in den letzten Jahren zwischen 40 und 60 Prozent) verringern läßt, ist mehr als zweifelhaft.

Auch rhetorische Korrekturen, wie die vorgeschlagene Änderung der Begrifflichkeit für die Europäische Union werden kaum weiterhelfen. Statt "Euroopa Liit" soll es, so regte jedenfalls Ex-Präsident Lennart Meri in Absprache mit Linguisten an, in Zukunft "Euroopa Unioon" heißen.

Der im Estnischen bisher unbekannte Begriff ‚Unioon würde sprachliche Rückschlüsse zur Bezeichnung "Noukogude Liit" für die Sowjetunion erschweren.

Eurogegner haben in der Vergangenheit immer wieder den Brüsseler Zentralismus in den Mittelpunkt ihrer Kritik gerückt und behauptet, daß dieser an Strukturen der untergegangenen UdSSR erinnere. Bei Demonstrationen führten manche von ihnen eine symbolträchtige Flagge mit sich: das blaue Europa-Sternenbanner mit Hammer und Sichel.

Nachhaltige Gegenmittel gegen solche Polemiken, denen eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen ist, sind schwer zu finden. Sie müßten sich auf eine verläßliche Berücksichtigung der verschiedensten nationalen und regionalen Interessen in der Europäischen Union gründen sowie auf die verbriefe Stärkung kleinerer Mitgliedsstaaten auf Kosten der Großen.

Beides ist heute schon vielfach zur Unmöglichkeit geworden, will die EU ihre Handlungsfähigkeit erhalten. Nach einer Osterweiterung gilt dies erst recht.

Was den estnischen Beitrittsbefürworten bleibt, ist das Argument, daß eine EU-Mitgliedschaft die internationale Anerkennung des zutiefst europäischen Charakters ihres Landes unterstreichen und den Schutz vor russischer Fremdbestimmung festigen würde. Auch die wirtschaftliche Entwicklung der Baltenrepublik scheint, wenn man den ländlichen Bereich mit den dortigen Verarmungstendenzen ausklammert, in guten Bahnen zu verlaufen.

Das Wachstum für 2001 lag bei beachtlichen 5,4 Prozent. Firmen, die mit Computertechnologie zu tun haben, erleben seit Jahren eine Hochkonjunktur. Besonders gut geht es den Banken sowie der Hotellerie und den Restaurants.

Hier gab es im vergangenen Jahr mit einem Umsatzplus von 9 bzw. 8,8 Prozent die größten Zuwächse. Und dies dürfte sich in der nächsten Zeit kaum ändern, selbst wenn manche trinkfreudige Finnen auf ihre Estland-"Sausen" verzichten sollte
 
     
     
 
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