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Gedanken für Intellektuelle

 
     
 
Man hält sich für ziemlich abgeklärt und ist stolz darauf, daß einen im Grunde nichts mehr überraschen kann: „War doch klar!“ Mit dieser Haltung fühlt man sich der verheerenden Weltlage immer eine Nasenlänge voraus – schlecht gelaunt zwar, aber im Bilde und daher den anderen überlegen.

Da kann es einen schon aus der Spur werfen, wenn wirklich mal etwas Unerwartetes geschieht, aber genau das ist passiert: Den Deutschen ist die Freude am Jammern und Schwarzsehen vergangen! Zur Jahreswende füttern uns die Meinungsforscher mit Zahlen, die durch die Bahn vom jäh aufgeflammten Optimismus künden. Verwandelt sich das Volk der Nörgler und Neider auf einmal in eine fröhliche Schar? Dann müßten wir unser gut sortiertes Bild vom Deutschtum
in seiner jüngsten Epoche wesentlich ummalen, wozu wir nur widerstrebend bereit sind.

Die kulturellen und die politischen Folgen wären zu bedenken. Denn spätestens seit 1968 wissen wir, daß Optimismus und Zufriedenheit nur die Maske unaufgearbeiteter Abgründe darstellen, welche das kritische Bewußtsein hemmen. Eine ganze Generation von Intellektuellen hat sich daran aufgerieben, unserer verbiesterten Unwilligkeit zum Madigmachen, welche die finstere Nachkriegszeit prägte, ein Ende zu bereiten – mit beträchtlichem Erfolg. Die Frage, ob das deutsche Glas halbvoll oder halbleer ist, schien für immer beantwortet zu sein. Gut, 1989 und 1990 quoll noch einmal kurz beängstigender Jubel und eine gewisse Aufbruchstimmung aus den Ecken. Da waren wir eben noch nicht soweit. Zehn Jahre später hätten die Deutschen jene „Einheit“ jedoch entweder verhindert oder solange gründlich und kritisch hinterfragt, bis sich die Sache von selbst erledigt hätte.

Und nun auf einmal blicken die Leute „optimistisch“ in die nahe Zukunft. Die Wirtschaftsinstitute kollaborieren schamlos und setzen ihre Wachstumsprognosen rauf. Ein Radiojournalist des „Deutschlandfunks“ fragte den früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse mit bedachtem Hintersinn, ob „Deutschland erwacht“ sei. Da haben wir’s! „Tatkraft“, „Fleiß“ und der ganze Kram – wir wissen doch, wohin das führt! Ein starkes Deutschland schürt die Ängste unserer Nachbarn (die gern an unsere Marktanteile kämen) und galt in den endaufgeklärten 90ern noch als typisch teutonische Anmaßung. Daß das „Ausland“ auf das schwache Deutschland, das es inzwischen auch kennengelernt hat, noch nervöser reagiert, tut hier nichts zur Sache.

Daß Deutschland nicht bloß wieder stark werden soll, sondern Politiker wie der SPD-Chef Matthias Platzeck sogar von „preußischen Tugenden“ schwadronieren und im Fernsehen patriotische Aufmöbelei per Werbespot getrieben wird, das hätte es vor wenigen Jahren noch nicht gegeben. Jedenfalls nicht ohne Lichterketten und Schriftstellerkongresse dagegen.

Dramatisieren wir die Lage? Nun ja, es liegen ein paar Heilmittel bereit, welche die Stimmung der Deutschen wieder auf Normalmaß drücken. Die perfektionierte Auswahl dunkler Flecken der Vergangenheit zieht immer. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß Patriotismus und „Zuversicht“ zusammenhängen. Wo hingegen Schuld und Sühne das Herz zügeln, da ist der „Aufschwung“ fürs erste gestoppt, wie selbst Ex-BDI-Chef Hans-Olaf Henkel bemerkt haben will. Ein Volk, das sich beinahe ausschließlich und täglich mit den abschreckenden Seiten seiner Geschichte umgebe, sei irgendwann auch wirtschaftlich ermattet, weil ihm Selbstvertrauen und Mut zur Offensive fehlen, so Henkel.

Also gilt es hier anzusetzen. Dazu darf man aber auch keinen hierfür brauchbaren Jahrestag fahrlässig verstreichen lassen. 2005 ist das geschehen: Hundert Jahre zuvor gab es einige Scharmützel im damaligen Deutsch-Ostafrika, die sich problemlos zu einem Gedenkjahr über deutsche Schuld und Völkermord hätten zusammenbauen lassen. Hat aber keiner gemacht. Warum eigentlich nicht? Womöglich sind die verstockten Tansanier schuld. Die haben nicht nur keine Wiedergutmachung gefordert. Schlimmer noch: In ihrer Metropole Daressalam muß noch heute jeder Tourist am Denkmal der „Askaris“ vorbei, jener schwarzen Hilfstruppe, die sich im Ersten Weltkrieg bei den deutschen Faschisten verdingt hat und sich verbissen gegen die Befreiung ihres Landes durch die Briten wehrte. Als vor einigen Jahren in Hamburg ein „Tansaniapark“ in der einstigen „Lettow-Vorbeck-Kaserne“ (!) samt Schutztruppenehrenmal eingeweiht wurde, waren engagierte Demonstantinnen und Demonstranten zur Stelle, um ihrer Betroffenheit und Wut über den neokolonialistischen Kult Ausdruck zu verleihen. Von ebenfalls anwesenden Tansaniern mußten sich die couragierten Bürgerinnen und Bürger dann anhören, daß sie nichts von Geschichte verstünden! Hier wird noch viel Bildungsarbeit nötig sein, bis diese armen Drittweltler endlich auch (also nur) die düsteren Seiten des deutschen Unwesens verinnerlicht haben. Dann werden wir sie gern als Vorzeigeankläger wieder einladen und genau dorthin stellen, wo dumpfe Deutsche von den „Leistungen unseres Volkes in der Vergangenheit“ faseln, die uns „Ansporn und Vorbild für den Wiederaufstieg der Bundesrepublik an die Weltspitze“ sein sollten. Denen kann man, zumindest atmosphärisch, mit solchen Inszenierungen leicht das Handwerk legen.

Günstig ist dabei, daß sie es meist gar nicht merken, weil sie den von Henkel in die Öffentlichkeit getratschten Zusammenhang zwischen Vergangenheitsbewältigung, seelischer Verfassung der Deutschen und ihrer Wirtschaftsentwicklung meist noch nicht erkannt haben. Ergo kann man deutsche Aufschwünge mit den allabendlichen Adolf-Hitler-Paraden im Fernsehen zumindest immer mal wieder ein wenig eintrüben, ohne daß einen dafür jemand kritisiert. Jede Forderung, auch nur eine einzige Braunschau nicht zu senden, ist im Handumdrehen mit dem Vorwurf der „Verdrängung“ niedergemäht.

Nicht nur das spendet Hoffnung auf ein baldiges Wiederaufkeimen der deutschen Hoffnungslosigkeit. Auch ein sehr viel profanerer Aspekt spricht für die Brüchigkeit der gestiegenen Zukunftserwartungen in den Umfragen: Gut zwei Drittel der Wähler haben der derzeitigen Koalition ihre Stimme gegeben. Aus der Marktforschung ist bekannt, daß Kunden ein eben erst erworbenes Produkt zunächst loben und über kleine Unebenheiten hinwegreden, weil sie keinen Fehlkauf eingestehen wollen. Selbst wenn das neue Auto nach nur sechs Wochen klappert und leckt – wer würde gern zugeben, daß er sich eine Schrottmühle hat andrehen lassen? Also spricht man lieber von „Kinderkrankheiten“ und über die sichere Aussicht, daß sich die bald geben werden.

Die Wähler einer siegreichen Partei verhalten sich nicht anders: Meine Entscheidung war richtig, also wird es wohl gutgehen in Berlin. Bestärkt werden diese über 70 Prozent Schwarz-Rot-Wähler von den Medien. Denn auch dort konnte sich schließlich seit 1969 keine Regierung mehr auf eine so breite potentielle Zuneigung stützen wie die jetzige.

Allerdings kann die Zustimmung bei Autokäufern ebenso wie bei Wählern und Medienmachern (selbst wenn sie nicht, wie die Deutschen, täglich geschichtspolitisch aufs Rad geflochten werden) abrupt umschlagen, sobald sich die Enttäuschungen häufen. Darauf hofft – aus rein parteitaktischen Motiven – natürlich die Opposition, die derzeit ein recht dürres Licht wirft. Überhaupt fragen wir uns, wozu wir diese drei kleinen gelben, grünen und dunkelroten Haufen im Reichstag eigentlich noch brauchen?

Es wäre vielleicht ergebnisorientierter, wenn man staatliche Dienste damit beauftragte, für eine vernünftige Aufteilung der Fraktionen zu sorgen wie in den Parlamenten von Kuba, Syrien und Sachsen.

Eine Armee von Intellektuellen hat uns doch gelehrt, daß Zuversicht Verdrängung ist!

"Worauf wartest du? Komm in die Gänge!"
 
     
     
 
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