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Nervosität am Bosporus

 
     
 
Schlag auf Schlag hat sich in Ankaras politischen Kreisen die Stimmung eingetrübt. Die Chancen der Türkei auf eine baldige EU-Mitgliedschaft sind in nur sieben Tagen rapide gesunken. Zunächst kam aus Berlin die Nachricht von Neuwahlen vermutlich schon im September, kurz bevor eigentlich die Türkei-Verhandlungen in Brüssel beginnen sollen. Deutschlands rot-grüne Regierung wackelt, die bislang der wichtigste Fürsprecher des türkisch
en Drängens in die EU war.

Ein weiterer herber Schlag für die türkischen EU-Ambitionen kam, als die Franzosen vergangenen Sonntag dem EU-Verfassungsvertrag eine deutliche Abfuhr erteilten. EU-Europa steht vor einem Scherbenhaufen, die politische Elite ist wie gelähmt. In dieser Situation scheint die Erweiterung um einen islamischen Staat von bald 80 Millionen Menschen nur noch schwer denkbar.

Von einem "Erdbeben in Deutschland" sprach Hürriyet, als Kanzler Schröder nach dem SPD-Debakel in NRW Neuwahlen ankündigte. "Die Türkei verliert ihren wichtigsten Verbündeten", klagte das regierungsnahe türkische Massenblatt. Die türkische Börse und die Landeswährung Lira gaben deutlich nach, denn der jüngste ökonomische Aufschwung basiert teilweise auf dem Prinzip EU-Hoffnung. "Mit der Unterstützung Berlins wird es vorbei sein", warnt auch die regierungskritische Zeitung Cumhuriyet für den Fall, daß Schröder und Fischer im Herbst abgewählt werden. "Das pro-türkische Klima in Europa wandelt sich", erklärte ein Leitartikler der linksliberalen Zeitung Radikal. "Statt dessen kommen anti-türkische Politiker an die Macht."

Kanzler Schröder hatte stets demonstrativ die Nähe zum türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan gesucht. Die Vergangenheit des wegen Volksverhetzung bestraften islamistischen Politikers interessiert ihn wenig. Schröder nannte Erdogan "meinen Freund". Trotz der Bedenken einiger SPD-Politiker, ein EU-Beitritt der Türkei könne die Gemeinschaft überfordern sowie eine Massenzuwanderungswelle auslösen, haben Schröder und Außenminister Fischer die EU-Hoffnungen Ankaras stets gefördert.

Die CDU unter ihrer Vorsitzenden Merkel dagegen lehnt eine Vollmitgliedschaft der Türkei ab. Ihr Model einer "privilegierten Partnerschaft" läßt aber unklar, was konkret damit gemeint ist, zumal die Türkei bereits seit einigen Jahren eine Zollunion mit der EU hat und fest in die westlichen Verteidigungsstrukturen eingebunden ist. Im Grunde ist die Türkei bereit ein "privilegierter Partner" der EU. Eine Vollmitgliedschaft brächte ihr jedoch Mitspracherechte in den politischen Gremien der EU sowie Anspruch auf Brüsseler Fördergelder in Höhe von bis zu 21 Milliarden Euro pro Jahr, so eine Studie des Münchner Osteuropa-Instituts.

Schwer vorhersagbar ist der Migrationsdruck. Besonders aus Anatolien, dem Armenhaus der ohnehin armen Türkei, würde sich eine Welle von Zuwanderern über die alten EU-Staaten, allen voran Deutschland, entladen, sobald Türken die Vorzüge der EU-Freizügigkeit nutzen könnten. Studien sprechen von einem Wanderungspotential zwischen drei und zehn Millionen Menschen. Dies würde eine Verdreifachung der hier lebenden türkischen Bevölkerung zur Folge haben.

Wie ernst das scheinbar harte Nein der Union zu einem türkischen EU-Beitritt gemeint ist, läßt sich schwer abschätzen. Erst kürzlich bestätigte Merkel, auch eine unionsgeführte Bundesregierung würde den einstimmigen Beschluß des EU-Ministerrates, am 3. Oktober Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beginnen, nicht antasten. Danach aber wäre der türkische Zug auf dem Gleis und würde sich fast unaufhaltsam in Richtung Europa bewegen.

Hier hat nun die französische Ablehnung der EU-Verfassung ein strukturelles Hindernis gegen den EU-Beitritt der Türken ergeben. Das französische Nein wirft EU-Europa auf den Vertrag von Nizza zurück. Dieser bietet wenig Spielraum für weitere EU-Beitritte. Anders als die gescheiterte EU-Verfassung sieht er keine Lockerung des Einstimmigkeitsprinzips bei Entscheidungen des EU-Ministerrates vor. Eine einzelne Regierung könnte damit die EU-Exekutive lahmlegen. Die Gemeinschaft wäre leicht handlungsunfähig und blockiert.

Aus Ankara waren abwiegelnde Kommentare zum französischen Referendum zu hören. "Das betrifft uns nicht", meinte der türkische Außenminister Abdullah Gül. Auch EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso erklärte, das Referendum sei ohne Folgen für den Verhandlungsbeginn. Doch die beschwichtigenden Worte scheinen realitätsfern und können die Nervosität am Bosporus wie in Brüssel nur schwer überspielen.

Gleich nach dem niederschmetternden Ergebnis aus Paris mehrten sich die Stimmen, die eine Verschiebung der Beitrittsverhandlungen forderten. Der CSU-Politiker und stellvertretende EU-Parlamentspräsident Ingo Friedrich erklärte, ein Türkei-Beitritt sei "jetzt nicht mehr möglich". Sein CSU-Kollege Joachim Wuermeling kritisierte die "Augen-zu-und-durch-Strategie" führender EU-Politiker. Auch der Vize-Vorsitzende der FDP im EU-Parlament wertet das französische Votum als "ein Nein zur Überdehnung der EU". Das Referendum habe den Verhandlungen mit der Türkei die Basis entzogen.

"Ein Umdenken in der Türkei-Frage hat eingesetzt", sagte der europapolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Hintze, in Berlin. Am meisten muß die Türkei erschrecken, daß auch die frischgebackene Unions-Kanzlerkandidatin Merkel davon sprach, die "Entfremdung zwischen den Menschen und Europa" könne nur durch "eine ehrliche Diskussion über die Mitgliedschaft der Türkei" abgebaut werden.

Türkische Medien reagieren zunehmend gereizt auf die jüngste dramatische Entwicklung. Eine weitere Stimme, die Zweifel an der EU-Reife des Landes äußert, ist der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington, der gegenwärtig das Land bereist und Vorträge hält. Der Autor des bekannten Buchs "The Clash of Civilizations" spricht offen von Ängsten vor einem "Eurabia". Die EU werde die Türkei nicht aufnehmen, doziert Huntington sehr zum Ärger der Türken. Er rät ihnen, ihre EU-Träume aufzugeben und sich als führende Macht im islamischen Raum zu positionieren.
 
     
     
 
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