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Normalbevölkerung in der Zeit des Nationalsozialismus

 
     
 
Den wirtschaftlichen Aufschwung und die Verminderung der Arbeitslosigkeit ab dem sogenannten Jahr der Machtergreifung schrieben in der Vorkriegszeit nahezu alle deutschen Normalbürger der nationalsozialistische
n Reichsregierung zu. Ab Mitte der Dreißiger Jahre beobachteten 51 Prozent der Normalbürger „fast nie“ und weitere 44 Prozent „nur selten“ Angst vor Arbeitslosigkeit. „Endgültig verloren“ erschien der Zweite Weltkrieg dem überwiegenden Teil der Bevölkerung: zu 35 Prozent nach der Landung der Alliierten in der Normandie, zu 47 Prozent nach dem Überschreiten der Reichsgrenzen durch gegnerische Truppen und zu 29 Prozent nach dem Überschreiten der Flüsse Rhein und Oder.

Zwischen diesen Antworten liegen mit der Vorkriegszeit von 1933 bis 1939 und der Kriegszeit von 1939 bis 1945 die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland. Der Psychologe Fritz Süllwold, Jahrgang 1927, hat dazu sorgfältig ausgewählten Zeitbeobachtern viele Fragen gestellt. Er wollte ermitteln, wie die deutschen Normalbürger diese Epoche erlebt haben und in welchem Umfang sich die Deutschen in diesen Jahren entsprechend den von Nationalsozialisten geprägten und beherrschten Zeitumständen „politisch korrekt“ verhielten, also den damaligen Sprachregelungen unterworfen haben.

Diese für das Selbstverständnis der Deutschen und das Verhältnis der Generationen zueinander existentiellen Fragen und Antworten hat Süllwold jetzt in einem bei Herbig, München, erschienenen Buch „Deutsche Normalbürger 1933-1945; Erfahrungen, Einstellungen, Reaktionen“ (ISBN 3-7766-2240-7) veröffentlicht. Süllwold, zunächst Professor für Statistik, später Ordinarius für Psychologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main, war 20 Jahre lang Herausgeber der renommierten „Zeitschrift für experimentelle und angewandte Psychologie“.

Der anerkannte Wissenschaftler hat dabei einen neuen Weg beschritten, um dem wichtigen Erfordernis einer bevölkerungsbezogenen Geschichtswissenschaft gerecht werden zu können. Zeitbeobachter aus dem gesamten damaligen Reichsgebiet äußerten sich im Rahmen einer aufwendigen empirischen Untersuchung in umfangreichen Erhebungsbögen nicht über ihre jeweils eigenen Meinungen und Beurteilungen zwischen den Jahren 1933 und 1945, sondern über die Reaktionen, die sie in jener Zeit in ihren jeweiligen Umfeldern wahrgenommen haben. Dabei war keiner der Zeitbeobachter vor oder nach 1945 maßgeblich politisch tätig und kann als Vertreter irgendeiner Interessengruppe angesehen werden.

Fritz Süllwold will mit seinem Versuch einer realitätsgerechten Geschichtsschreibung über die Normalbevölkerung der NS-Epoche einen Beitrag zur Entkrampfung der Diskussion um die sogenannte „Vergangenheitsbewältigung“ leisten. Mit seinem kritischen Hinterfragen der „Schuldsüchtigkeit“ und ihrer Folgen, die konkrete politische Verhaltensweisen der Gegenwart mitprägen, liegt Süllwold auf der Linie des Bundespräsidenten Johannes Rau, der mit seiner Warnung vor „falscher Ausländerfreundlichkeit“ gerade eben erst ein positives Echo bis hin zur CDU-Vorsitzenden Angela Merkel gefunden hat, die forderte: „SPD und Grüne sollten jetzt endlich ihre alte Multi-Kulti-Ideologie an den Nagel hängen“. Sieht doch Süllwold die Gefahr, daß „Fremdenfeindlichkeit“ und „Ausländerfeindlichkeit“ zu „Totschlagwörtern“ geworden sind, als „Mittel zur Erzeugung von Sprachlosigkeit und Denkhemmungen“.

Die Kenntnis der „Erfahrungen, Einstellungen, Reaktionen“ der Deutschen in der NS-Zeit, wie sie Süllwold zusammengetragen hat, offenbaren, wie viele Deutsche sich an Untaten verbrecherischen Charakters beteiligt haben, welche Erlebniswelt die Masse der Deutschen prägte und welche Informationsmöglichkeiten ihnen zur Verfügung standen. Die Fülle des zusammengetragenen Materials und die sachliche Darstellungsweise, die keinen Verdacht manipulativer Absichten aufkommen läßt, machen das Buch Süllwolds für die Deutschen so wichtig. Vom Zeitpunkt her kommt es wie das Vermächtnis einer Generation, der oft genug das Gefühl vermittelt wurde, als Zeitgenossen der nationalsozialistischen Epoche einer insgesamt verworfenen Generation anzugehören.

Die Fülle des Materials läßt aber auch nicht zu, einen ausreichenden Überblick davon zu geben. Von besonders erschütternder Ein- dringlichkeit sind die Befunde zur Wahrnehmung jüdischer Bürger und zum Umgang mit Juden, aber auch der Bericht der Zeitbeobachter zu der Frage: Was verhinderte aus der Sicht der Normalbevölkerung Bemühungen zur vorzeitigen Beendigung des Krieges: „78 Prozent: die Kenntnis der Forderung nach bedingungsloser Kapitulation und die Angst, einem grausamen Gegner, insbesondere den Sowjets, restlos ausgeliefert zu sein; 28 Prozent: die Furcht vor staatlicher Vernichtung und vor dem Verlust eines menschenwürdigen Lebens; 30 Prozent: die Meinung, daß es nach dem Ende der Kampfhandlungen nur noch schlimmer kommen könne, als es ohnehin schon war; 35 Prozent: die Hoffnung, daß sich in Erwartung des militärischen Endsieges der Gegensatz zwischen Sowjets und den westlichen Alliierten schnell verschärfen würde, so daß Deutsche, wenn sie nur lange genug aushielten, davon profitieren könnten; 33 Prozent: die Hoffnung, daß im letzten Augenblick doch noch Geheim- oder Wunderwaffen eingesetzt würden; 12 Prozent: eine diffuse Hoffnung auf irgendeine Wendung („kommt Zeit, kommt Rat“); 4 Prozent: die Angst vor Rache für begangene Untaten; 2 Prozent: der Glaube, durch heldenhaften Untergang und Schicksalsergebenheit die Selbstachtung und die Achtung des Gegners zu bewahren“.


Fritz Süllwold: Erlebte Geschichte. Der deutsche Normalbürger 1933-1945. Eine geschichtspsychologische Untersuchung“, Herbig Verlag, München, 2001. ISBN 3-7766-2240-7. Rund 200 Seiten. Preis: 39,90 Mark

 
     
     
 
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