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Deutsche benachteiligt

 
     
 
Ein weiteres Programm, PHARE-LIEN, bezuschußte sehr stark Gesundheits-, Hygiene- und Familienplanungsprojekte für Zigeuner, was mit Minderheitenschutz an sich freilich wenig zu tun hat. Auch das PHARE-Demokratie-Programm hatte häufig die gleichen Adressaten.

Neben ihrem humanitären Engagement
überwacht die Kommission die Einhaltung des Kopenhagener Minderheiten-Kriteriums durch die beitrittswilligen Staaten. Sie setzt hierzu zwei Instrumente ein: die jährlichen Regelmäßigen Berichte zum Stand der Beitrittsfähigkeit sowie die Beitrittspartnerschaften, welche Prioritäten u. a. bei der Förderung von Minderheiten festlegen. Zuvor ist die Lage der Volksgruppen bereits in der Agenda 2000 (1997) angesprochen worden.

Leider ist es um die Qualität der Urteile in den Regelmäßigen Berichten nicht zum Besten bestellt. Ihre systematische Analyse bringt folgende Schwächen zum Vorschein:

Überkonzentrierung auf einzelne Gruppen: Das Hauptaugenmerk der Kommissionsbeamten gilt russischen Einwanderern in den baltischen Staaten, die überhaupt nicht als Volksgruppen betrachtet werden können, sowie Zigeunern, die in den meisten Fällen jedoch unter rein sozialen Problemen zu leiden haben.

So wurde im Ungarn-Bericht von 1999 dem fundamentalen Grundvertrag mit der Slowakei ein kurzer Passus gewidmet (gefolgt von der Feststellung, andere Minderheiten sähen sich keinen besonderen Problemen gegenüber), während mehr als eine Seite über die Diskriminierung der Zigeuner-Volksgruppe berichtete. Im tschechischen Fortschrittsbericht wurde sich auf anderthalb Seiten über die Diskriminierung der Zigeuner verbreitet, während den übrigen Minderheiten ein Satz blieb. Es steht völlig außer Frage, daß sich die Roma in vielen mittelosteuropäischen Ländern großen Problemen gegenübersehen. Das darf aber einer ausgewogenen Einordnung in den Gesamtzusammenhang der Minderheitenproblematik nicht im Wege stehen.

Besonders ärgerlich ist das unaufhörliche Einhämmern der Kommission auf die Staatsangehörigkeits- und Sprachgesetzgebung Estlands und Lettlands. Mit übertriebener Härte wirkte sie auf die faktische Anerkennung derjenigen nicht autochthonen Russen als "nationale Minderheiten" ein, die erst nach 1945 zur Russifizierung in diese Länder gekommen waren. Hier wird sowjetische Assimilierungspolitik, die für die estnische und lettische Sprache zu einer existenzbedrohenden Lage geführt hat, nachträglich legitimiert und legalisiert.

Zu dem kommt die Außerachtlassung vieler (teils deutscher) Volksgruppen: In der Agenda 2000 vertrat die Kommission die Auffassung, daß Volksgruppen in Polen keinen besonderen Schwierigkeiten begegneten. Betrachtet man aber beispielsweise die größte Volksgruppe in der Republik Polen, die deutsche, so läßt sich gleich eine Reihe von Problemen erkennen: das die Assimilation beschleunigende Fehlen eines Minderheitenschulwesens, der Ausschluß Deutscher von höheren Verwaltungsstellen in der Woiwodschaft Oppeln wegen deren deutscher Staatsangehörigkeit, die Ausspionierung von Vertretern der Volksgruppe durch den Geheimdienst UOP, das Fehlen eines nationalen Minderheitengesetzes, die Verweigerung einer rentenrechtlichen Gleichstellung von Deutschen in Polen mit Rentenbeziehern der polnischen Bevölkerung, die Verweigerung der Rückgabe entschädigungslos enteigneten Eigentums unter Hinweis auf eine deutsche Staats- oder Volkszugehörigkeit. Auch die Größe der Volksgruppe wird mit 400 000 völlig falsch angegeben; sie liegt tatsächlich bei etwa 700 000.

Verwiesen werden könnte auch auf die Weigerung Sloweniens, seine deutsche Volksgruppe als solche anzuerkennen, obwohl diese größer ist als die mit Verfassungsrechten ausgestattete italienische Minderheit. Oder auf die Tschechische Republik, wo Angehörige der deutschen Minderheit im Gegensatz zu Tschechen nicht unter die Rückerstattungs- und Entschädigungsregelungen für das nach dem Zweiten Weltkrieg konfiszierte Eigentum fallen und ihre in tschechischen Arbeitslagern verbrachten Zwangsarbeitszeiten nicht in der Rentenversicherung angerechnet bekom- men.

Unrechtsdekrete  werden schlicht außer acht gelassen: Die eklatantesten derzeit noch durch nationale Gesetzgebungen gedeckten Verstöße gegen Minderheitenrechte dürften die Benesch-Dekrete sowie die AVNOJ-Bestimmungen sein. Erstere, 1945 bis 1948 von der Provisorischen Nationalversammlung der Tschechoslowakei erlassen, dienten als Grundlage zur Enteignung und Ausbürgerung von Sudetendeutschen und Ungarn sowie für Zwangsarbeit und die Amnestierung von während der Vertreibung begangenen Verbrechen. Die Benesch-Dekrete sind noch immer Teil der tschechischen (und slowakischen) Rechtsordnung und sollen es nach dem Willen der Prager Regierung auch nach einem EU-Beitritt bleiben. Daß dies mit dem aus Artikel 12 des EG-Vertrages (EGV) herrührenden Diskriminierungsverbot unvereinbar ist, bedarf keiner näheren Erläuterung.

Ganz ähnlich gelagert ist der Fall der Erlasse des "Antifaschistischen Rats der Volksbefreiung Jugoslawiens" (AVNOJ), die im Gebiet des heutigen Slowenien zur Ausbürgerung und Enteignung der deutschen Bevölkerung führten und diese rechtlos stellten. Auch die Laibacher Regierung hat sich dem Drängen Österreichs nach Aufhebung der Dekrete bislang widersetzt.

Mit beiden Problemen befaßt sich die Europäische Kommission nicht, obwohl das Europäische Parlament in einer Resolution vom Oktober 1999 nun schon zum zweiten Mal ausdrücklich die Aufhebung der Benesch-Dekrete forderte. Sie wirkt gleichfalls nicht auf ehemalige Vertreiberstaaten ein, den Vertriebenen und deren Nachfahren das Recht auf die Heimat zu gewähren, das diese mit den heute in diesen Gebieten lebenden Bürgern gleichstellte, also über das reine Niederlassungsrecht der EU hinausginge. Jedenfalls wäre es merkwürdig, wenn ein nach Breslau zurückkehrender Breslauer mit einem dort ansässig gewordenen EU-Bürger aus Portugal lediglich gleichberechtigt wäre. Ein Kölner hat in Köln auch weitergehende (Heimat-)Rechte als ein ausländischer EU-Bürger.

Für die genannten inhaltlichen Unzulänglichkeiten lassen sich folgende strukturelle Ursachen ausmachen:

Institutionelles: Durch die Beteiligung verschiedener Autoren in- und außerhalb der jeweiligen Länderreferate in der Generaldirektion Erweiterung ist es nahezu unmöglich, die Autorenschaft jedes einzelnen Minderheitenberichts zu rekonstruieren. Lediglich die sich mit den Zigeunergruppen befassenden Teilberichte scheinen in einem Konventikel zentralisiert zu sein. Verantwortlichkeiten verschwimmen somit.

Quellen: Bei ihrer Begutachtung bezieht sich die Kommission auf die Antworten der Regierungen der Beitrittsaspiranten auf einen Fragebogen von 1996, Dokumentationen aus bilateralen Treffen, Berichte des Europarats, der OSZE, verschiedener "Nicht-Regierungsorganisationen" (NRO) wie Amnesty International, Stellungnahmen der EU-Delegationen vor Ort sowie dortiger Botschaften von Mitgliedsstaaten.

Auf die nächstliegende Konsultationsmöglichkeit ist man indes nicht gekommen: die Betroffenen selbst zu fragen. Mit den zahlreichen Verbänden der Volksgruppen in den mittelosteuropäischen Ländern besteht kein institutionalisierter Kontakt, man beschränkt sich, wie es ein Kommissions-Mitarbeiter beschrieb, auf einen diffusen "Gesprächsfaden". Warum dies so ist, ob man den Aufbau eines Konsultationsnetzes aus Aufwandsgründen oder auf Grund einer politischen Motivlage scheut, bleibt unklar. Es ist folglich nicht verwunderlich, daß sich Schieflagen in die Berichte einschleichen.

Qualifizierung: Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die fehlende Qualifizierung der Kommissionsmitarbeiter für die Beurteilung der Lage der Volksgruppen. Da die EU keine Kompetenz in diesem Feld hat, fehlt es ihr auch an geschultem Personal. Zudem sind die Länderreferate für die Abdeckung verschiedener Themengebiete verantwortlich. Wer sich dort mit Minderheiten befaßt, ist möglicherweise Referent für Wettbewerb, Innen- oder Regionalpolitik. Nach Auffassung eines EU-Beamten wäre es "reiner Zufall", wenn ein Minderheitenbericht von jemandem verfaßt würde, der in der Thematik bewandert ist. So kommt es zu selbstherrlichen Einstellungen wie "Uns interessieren keine Definitionen, uns interessieren Probleme", um die Beförderung russischer Immigranten im Baltikum zu nationalen Minderheiten plausibel zu machen.

Selektivität: Die Auslassung verschiedener Minderheiten oder auch ganzer Themenkomplexe wie der Benesch/AVNOJ-Dekrete legt die Vermutung politisch motivierter Auswahl nahe. Im Falle der Benesch/AVNOJ-Dekrete kann man das auch auf eine Intervention der deutschen Bundesregierung zurückführen, die also eine übernationale Behörde anwies, die Interessen eines beträchtlichen Teils der deutschen Bevölkerung gegenüber den beitrittswilligen Staaten nicht wahrzunehmen.

Andererseits stellt sich die Frage, ob sich die ihrer "Unabhängigkeit" immer brüstende Kommission diesen Maulkorb wirklich verpassen lassen muß. Die kompetenzhungrige Institution versucht sonst schließlich auch, mit schwammigen Ausdrücken wie "spill over" ihr Eindringen in nahezu jeden Lebensbereich zu rechtfertigen. Hier böte sich nun die Gelegenheit, direkt in ein Gebiet der "hohen Politik" einzusteigen.

Bedauerlich ist insbesondere, daß die EU ihr eigenes Verhandlungspotenzial unterschätzt. Die Konditionalisierung des Beitrittsprozesses bietet die Möglichkeit, praktisch alle Minderheitenprobleme vor einem EU-Beitritt zu lösen. Auf diese Weise ließen sich auch zwischenstaatliche Auseinandersetzungen wie um die schon genannten Dekrete elegant auf die überstaatliche Ebene heben, was wiederum diese zwischenstaatlichen Beziehungen insgesamt schonte. Nach einem Beitritt der betreffenden Staaten ließen sich schwere Verstöße gegen den Minderheitenschutz nur noch mit dem Sanktionsmechanismus nach Artikel 7 des EU-Vertrages (EUV) ahnden.

 



 
     
     
 
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