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Hinter der Krawallkulisse

 
     
 
Im Ausland kennt man schon die "german angst", die vor allem bei Umweltfragen sprichwörtlich geworden ist. Sie greift jetzt auch global aus. Unter den Chaoten und Protestierern, die seit einiger Zeit weltweit gegen die Globalisierung demonstrieren, sind überdurchschnittlich viele Deutsche. "German angst on tour" könnte man das Stück dieses Sommers nennen – wenn es nicht so ernst und realistisch wäre und wenn sich hinter der Krawall-Kulisse gegen das große Geld nicht auch ein reales Unbehagen kundtäte.

Sicher, die Krawalltouristen benutzten bisher die ahnungslosen Protestierer als nützliche Idioten. Gegen diese Chaoten muß und will man auch vorgehen. Innenminister Schily erweist sich hier einmal mehr als Konvertit für Recht und Ordnung. Randalierer, Hooligans oder Krawallos betrachtet er als das, was sie sind: Gesetzesbrecher. Der Kampf gegen ein Phantom namens Globalisierung oder selbst gegen einen neoliberalen Raubtierkapitalismus, der aus dem Menschen ein privates Aktienpaket macht, rechtfertigt nicht die nackte Gewalt.

Die Anti-Globalisierungsbewegung ist da. Schon die Krawalle in Göteborg haben die Großen erschreckt. Früher wurden sie bejubelt. Heute stehen sie für eine vermeintlich neue Diktat
ur, für das globale Dreigestirn von Geld, Börse und Markt. In Seattle, Prag, Melbourne und Davos sammelten sich die Gegner der Globalisierung, in Göteborg erreichte der Protest eine neue Dimension. Salzburg und Genua reihen sich ein. Dort sind sie vor Randale sicher. Aber das ist der Rückzug in die Burg. Das Luxusschiff, gemietet für drei Tage zum Preis von 25 Millionen Mark, wird zum Symbol. Auf ihm promenieren die Abgehobenen, die "global player", wie einst die Geld-Aristokratie auf der Titanic. Hinter den Reihen der Chaoten mit ihren Wurfschleudern aber steht das Unbehagen der Bürger. Jenes, das sich nicht in Gewalt entlädt, sondern an der Urne niederschlägt. Irland war für die EU in diesem Sinn mehr Warnung als die Krawalle. Durch den Rückzug auf den Luxusliner vor Genua wird sich das Unbehagen nur verstärken: Die Akteure entfernen sich noch mehr vom Bürger. Das allgemeine Gefühl, hier würden undurchsichtig und unkontrollierbar für den Bürger Entscheidungen gefällt, wird sich bildhaft verdichten. Denn hier hat das Unbehagen seine Wurzel: Die Demokratie ist zur Oligarchie verkommen. Die neuen Oligarchen sind die Parteiführer, die Geldaristokraten, die Topmanager. Und die Regierungen sind ihnen hörig.

Natürlich hat es die Demokratie in Reinkultur nie gegeben, immer haben Cliquen, Kreise, Milieus mitregiert. Das Neue an der Oligarchie der Globalisierung jedoch ist die ideologische Ausrichtung auf Profit. Sie wird sogar liberal verklärt, so als ob das gemeinsame Profit-Interesse eine gemeinsame Kultur aus der Taufe der globalisierten Welt heben könnte. Illusion oder Ideologie? Man braucht als Antwort nicht den Hinweis auf den überholten Marxismus bemühen, schon der Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaft, Adam Smith warnte, die kommerzielle Gesinnung enge den Geist des Menschen ein und drohe die "heroische Gesinnung zu ersticken". Turbo-Kapitalismus nennt es Luttwack heute, den "Terror der Ökonomie" die Erfolgsautorin Viviane Forrester. Im Grunde geht es um ein Gesetz, von dem Papst Leo XIII. schon vor hundert Jahren sagte, daß es in der Gesellschaft nach Gott das erste und letzte sei: Das Gemeinwohl. Das wird durch eine wuchernde Globalisierung gefährdet.

Aber nicht nur die Gefahren der Globalisierung für die Gesellschaft rechtfertigen das Unbehagen. Es geht auch ganz allgemein um die Unterwerfung unter eine Theorie, "die den Profit zur alleinigen Regel und zum letzten Zweck aller wirtschaftlichen Tätigkeit macht" und das ist, so die Väter des Zweiten Vatikanum, "sittlich unannehmbar". In Gaudium et Spes ist sogar weiter zu lesen: "Ungezügelte Geldgier zieht böse Folgen nach sich. Sie ist eine der Ursachen der zahlreichen Konflikte, die die Gesellschaftsordnung stören". Natürlich läßt sich kein unmittelbarer, ursächlicher Zusammenhang herstellen. Es geht um die Geisteshaltung. Für die Kapitalisten in Amerika definiert ihn Edward Luttwack, einer der angesehensten Autoren in den USA so: "In den USA herrscht ein säkularisierter Calvinismus, im übertragenen Sinne also der Glaube, daß der Wert des Menschen von seinem wirtschaftlichen Erfolg abhängt". Viel Geld, viel Ehr.

Der notorisch vorgebrachte Verweis auf die Zwänge der Globalisierung hat den Hautgout eines fadenscheinigen Alibis. Man beruft sich auf die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, die es zu steigern oder wenigstens zu halten gelte. Man bedauert den Verlust von Arbeitsplätzen und rechnet gleichzeitig stolz den Gewinn aus den Synergien vor. Immerhin: Hinter solchen Bemerkungen sind noch die skizzenhaften Striche einer ehemals empfundenen Verantwortung zu erkennen. Es war die Verantwortung für das Unternehmen und seine Mitarbeiter, und es war, vage vielleicht nur noch, auch die Verantwortung für das Gemeinwohl.

Darum geht es. Manche Autoren der mittlerweile zur Bibliotheksreife herangewachsenen Literatur über die Globalisierung nennen die Alternative "Staat oder Markt" die "Schlüsselfrage unseres Jahrhunderts". Aus den Reihen der Politik wird der Ruf nach einem Weltkartellamt laut. Wenn es nicht gelingt, eine globale Debatte über das Gemeinwohl anzuregen, dann droht das Menschliche in unseren freiheitlichen Staatssystemen von der Tyrannei einiger weniger Finanz-oligarchen verkauft oder zum Fonds perdu der Marktwirtschaft erklärt zu werden. Die Kirche hat immer, so lehrt Johannes Paul II. in Centesimus Annus, in der Handlungsweise des Kapitalismus den Individualismus und den absoluten Primat der Marktgesetze über die menschliche Arbeit abgelehnt. Die ausschließliche Regulierung der Wirtschaft durch das Gesetz des freien Marktes verstoße gegen die soziale Gerechtigkeit, denn "es gibt unzählige menschliche Bedürfnisse, die keinen Zugang zum Markt haben". Der Papst erinnert daran, daß es Aufgabe der Wirtschaftslenker und der Politik ist, auf eine Regelung des Marktes hinzuwirken, die sich an die rechte Wertordnung halte und auf das Wohl aller ausgerichtet sei.

Wie terroristisch der Kapitalismus toben kann, zeigt wieder-um Luttwack auf. Immer schneller drehe sich die Maschine der Fusionen und Spekulationen. Der Einzelne könne in diesem System nicht sicher sein, daß er seine Position lange hält. "Die fehlende wirtschaftliche Stabilität produziert Angst und diese trägt Spannungen in die Familien und bringt die Gesellschaft durcheinander. Inzwischen enden über 50 Prozent aller Ehen in den USA in Scheidung – landesweit. Wo der Turbo-Kapitalismus voll funktioniert, an der Wall Street oder in Silicon Valley, beträgt die Scheidungsrate fast hundert Prozent. Dort verlangt das System so viel Energie und Zeit von den Leistungsträgern, daß sie sich nicht mehr um Beziehungen kümmern. So atomisiert der Turbo-Kapitalismus die Gesellschaft mehr und mehr".

Das Reden von der sozialen Komponente der Globalisierung erweist sich zunehmend als Fata Morgana. Es gibt hier und da den sozial denkenden Manager. Aber das ist die Ausnahme, nicht die Regel. Die soziale Marktwirtschaft bleibt ein deutsches Markenprodukt. Auf dem Weltmarkt wirkt sie abgestanden, auch wenn die Befürworter der Globalisierung landauf landab betonen, nichts sei sozialer als der freie Welthandel, nichts bringe mehr Reichtum für alle.

Die Wirklichkeit wartet mit anderen Zahlen auf. Der Abstand zwischen armen und reichen Ländern wächst. Das hängt natürlich auch damit zusammen, daß manche reichen Länder zwar die Freiheit des Handels predigen, aber selbst nicht bereit sind, Zollschranken fallen oder die Dritte Welt an den Tisch der Entscheidungsträger Platz nehmen zu lassen, zum Beispiel beim Treffen der Management-Aristokratie in Davos.

Das Problem ist auch eine Frage der Management-Qualität. Viele Manager haben die Dividende der Eigentümer – Stichwort shareholder value – aber sicher auch ihre eigene Gewinnsteigerung und Absicherung im Kopf und verwechseln Modernisierung oft mit Personalabbau. Getarnt wird die Operation dann mit der Notwendigkeit, auf dem Weltmarkt "wettbewerbsfähig" zu bleiben. Alfred Rappaport, der Erfinder des Begriffs "shareholder value", sieht in diesem Denken eine Verflachung seiner Theorie. Personalabbau könne die "langfristige Produktivität der verbleibenden Arbeitskräfte negativ beeinflussen", schrieb er schon vor ein paar Jahren und plädierte für eine langfristige "Partnerschaft für Wertsteigerung" zwischen Eigentümern (Aktionären) und Angestellten. Das setze die gegenseitige Achtung der Arbeit und Funktion des Partners und eine "gerechte Werteteilung" des Gewinns, sprich Engagement und eine gerechte Lohnskala voraus. Einige dieser Gedanken kommen in der neuen Theorie von der "New Economy" zum Vorschein. Der Mensch läßt sich nicht so ohne weiteres verdrängen. Die Knechtung hat ihre Grenzen. Der Kapitalismus braucht den Menschen auch. Das ist wie im richtigen Leben. Wo nur der kurzfristige Vorteil im Blick ist, da geht es auf Dauer meist schief. Weder Geld noch Personen müssen vorrangig freigesetzt werden, sondern Energien und Ideen. Das sei der wahre Wettbewerbsvorteil, meint Rappaport, nicht die verschlankte Struktur. Die könne auf Dauer sogar teurer zu stehen kommen, denn über die Ideen kommt auch der dritte, unverzichtbare Partner ins Spiel, der Kunde. Das sind wir alle. Die Zeche der gescheiterten Fusionen zahlen, wie Rappaport lehrt, die Kunden und die Eigentümer, selten die Manager.

Rappaport, Luttwack und andere sind mit der Klage über die Fusionitis nicht allein. In der Wirtschaftswissenschaft wird immer lauter vor dem Primat der Globalisierung gewarnt. Paul Krugmann, der nobelpreisverdächtige momentane Star der wirtschaftswissenschaftlichen Szene, macht in diesem Sinn darauf aufmerksam, daß die Produktivität mehr ein lokales oder regionales, denn ein globales Problem sei. Beispiel Deutschland: Mit 1,3 Prozent der Weltbevölkerung erzeugen wir zwar gut zehn Prozent des Welthandels, aber der größte Teil davon wird in Europa abgewickelt. Global bedeutet vor allem europäisch und rund 95 Prozent der deutschen Anlageinvestitionen verbleiben sogar im Inland. Von einem entfesselten Wettbewerb aller gegen alle kann keine Rede sein. Der Kunde ist vor Ort. Das war er schon im vergangenen Jahrhundert. Krugman weist nach, daß der internationale Handel heute gemessen am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt nicht umfangreicher ist als vor hundert Jahren.

Wer nur global denkt, versagt national. Und wer nur Markt denkt, der versagt auch sozial. Die Welt-AG wird es nicht geben. Es bleibt dabei: Wer das Gemeinwohl sucht, und sei es nur im angelsächsischen Sinne des "größten Glücks der größten Zahl", der kommt an der katholischen Soziallehre mit dem Prinzip der Subsidiarität nicht vorbei. Oder er endet im Fiasko. Nicht in der Börse liegt das Heil, sondern in der Berufung des Menschen, das Schöpfungswerk zum Wohl aller fortzusetzen. Daran wird sich vermutlich noch mancher kluge Staatsmann oder Manager in der Stunde des nächsten Crash oder Aufstands der Globalisierungsgegner erinnern. Sie sollten das Unbehagen der Bürger jetzt ernst nehmen, nicht erst nach den Krawallen.

 
     
     
 
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