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Nicht Fehler sehen sondern Erfolge

 
     
 
Herr Ministerpräsident, zum ersten Themenkomplex Aufbau Ost: Es ist vieles nicht so gelaufen, wie man es sich gewünscht und erhofft hätte. Was würden Sie sagen, wo lagen schwerpunktmäßig die Fehler, wo hätte man Weichen anders stellen müssen, hätte man sie überhaupt anders stellen können oder mußte man erst einmal wirklich die Erfahrung machen, wie ein sozialistisches System umzubauen ist?

Milbradt: Ich möchte erst einmal über das reden, was positiv gelaufen ist: alles was der Staat direkt in seiner Verantwortung hat, also Gesundheitssystem, Lehrsystem, die ganze breite Infrastruktur
, Schule, Hochschule, Justiz und ähnliche Dinge sind mittlerweile weitgehend auf Westniveau. Hier hat es der Staat, also die Solidargemeinschaft in gemeinsamer Anstrengung geschafft, in ganz Deutschland vergleichbare Verhältnisse zu schaffen. Es gibt noch gewisse Unterschiede in der Infrastruktur, das Autobahnnetz ist nicht so dicht, das Schnellverkehrssystem, der ICE ist bis dato unterpräsentiert, es gibt auch in der Verbindung über die Grenzen nach Polen oder Tschechien noch Defizite, die wir an der deutschen Westgrenze sonst nicht kennen. Aber im Grunde genommen ist das eine große Erfolgsgeschichte. Sie wird oft nicht gesehen. Wir reden über Feinstaubbelastung, aber nicht darüber, daß die Staubbelastung hier seit der Wiedervereinigung um 98 Prozent zurückgegangen ist. Das wird genauso als selbstverständlich hingenommen, wie die Tatsache, daß die Lebenserwartung der Menschen in Ostdeutschland im Schnitt um drei Jahre gestiegen ist. Dies liegt an der verbesserten gesundheitlichen Betreuung, vor allen Dingen besseren Medikamenten und besserer Technik - daran fehlte es, die Ärzte waren ja da - und vor allen Dingen auch aufgrund der Verringerung der Umweltbelastung. Das gilt als selbstverständlich, während der Teil, der nicht so gut gelungen ist, als das eigentliche Aufbau-Ost-Thema behandelt wird. Aber das ist die Wirtschaft und Wirtschaft heißt hier: private Wirtschaft.

Die Wirtschaftsaktivität liegt heute etwa bei 60 bis 70 Prozent des Westniveaus. Wir sind da geschätzt bei 30 Prozent, also ist das ein großer Schritt nach vorn. Daraus leiten sich die Unterschiede in den Arbeitseinkommen, im Lebensstandard und auch in der Höhe der Arbeitlosigkeit ab. Das rankt sich aber alles um das Wirtschaftsleben und da trägt der Staat nur mittelbar Verantwortung. Hier sind natürlich auch noch andere Bedingungen zu berücksichtigen. Der Aufbau einer neuen Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschland ging einher mit der Öffnung Osteuropas; die dortigen deutlich niedrigeren Löhne führten zu einer starken Konkurrenzsituation, die Westdeutschland beim Aufbau in den 50er Jahren so nicht hatte.

Das zweite war, daß es keinen einheitlichen Mittelstand im größeren Stil gab. Und es wird eine gewisse Zeit brauchen, bis die ostdeutsche Wirtschaft das erforderliche Kapital gebildet hat. Das alles ist eine Frage der Zeit. Mittelstand wächst über zwei, drei Unternehmergenerationen heran. Aber ein Großteil unserer ostdeutschen Betriebe, soweit sie aus dem eigenen Land entstanden sind, sind Neugründungen, mit allen Problemen, die Neugründungen haben: Sie brauchen Zeit, sie haben noch Schwierigkeiten auf den Auslandsmärkten, der Forschungs- und Entwicklungsanteil ist unterdurchschnittlich. Da können wir als Staat helfen, aber es ist nicht zu erwarten, daß man dies relativ schnell erreicht.

Wie sieht Ihre zeitliche Perspektive aus, was den Aufbau Ost betrifft?

Milbradt: Der Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft wird weitere 15 Jahre dauern. Die ersten 15 Jahre dieses Prozesses sind in diesem Jahr abgelaufen, 2020 läuft der Solidarpakt aus, das ist - so glaube ich - auch realistisch. Es hat Vorstellungen gegeben, daß man das schneller machen kann, aber für jemanden, der wie ich in der Wirtschaft tätig war und sich in der Wirtschaftsgeschichte auskennt, ist klar, daß ein solcher Prozeß Zeit benötigt. Deswegen will ich nicht so sehr über die Fehler reden, sondern auch über die Erfolge. Vor lauter Dis-kussion über Schwächen der ostdeutschen Volkswirtschaft, wird das, was erreicht wird, darüber völlig vergessen.

Flächendeckend gleiche Lebensbedingungen in einem Land wie Deutschland - eine Illusion?

Milbradt: Das steht ja auch so im Grundgesetz: nicht gleiche, sondern gleichwertige Verhältnisse. Zum Beispiel hat es ja auch in Westdeutschland schon immer deutliche Unterschiede zwischen Stadt und Land gegeben, es hat auch immer prosperierende und weniger prosperierende Regionen gegeben. Vergleichen Sie Frankfurt mit dem Bayrischen Wald oder mit Ostfriesland, auch da gibt es regionale Unterschiede. Das Problem: Die Unterschiede dürfen ein gewisses Maß nicht überschreiten, sie dürfen nicht so einseitig sein, es darf auch nicht so sein, daß Ost und West in sich homogen sind, daß es also in Deutschland nur noch einen einzigen großen Unterschied gibt, nämlich den zwischen Ost und West. Den müssen wir überwinden. Wenn wir uns zum Beispiel eine Stadt wie Dresden ansehen, merkt man ja, daß diese Stadt mit Riesenschritten dabei ist, deutschlandweit wettbewerbsfähig zu werden. Für andere periphere Regionen, meinetwegen die Uckermark in Brandenburg oder Vorpommern, ist die Situation anders, sie werden eine andere Entwicklung nehmen. Und deswegen, glaube ich, kommt es darauf an, nicht nur auf Durchschnittswerte zu achten, sondern differenziert zu sehen, wie sich Dresden, Leipzig oder der Berliner Raum sehr positiv entwickeln und welche besonderen Probleme andererseits die peripheren Regionen haben. Denen muß man auch eine Perspektive geben.

Der traditionelle Mittelstand ist zu erheblichen Teilen 1945 bis 1949 durch sowjetische Enteignungen zerschlagen worden. Wie weit spielt das heute auch noch eine Rolle?

Milbradt: Eine große. Da geht es ja nicht nur um enteignetes Land, Kapital und Betriebe. Das hängt auch mit Familientraditionen zusammen. Der Mittelstand steht auch immer auf den Schultern der Vorfahren. In aller Regel - von Ausnahmen abgesehen - haben traditionelle mittelständische Unternehmer meist eine längere Firmengeschichte, 100 Jahre sind da keine Seltenheit und das zählt natürlich. Diese Tradition ist unterbrochen worden. Wir haben auf der einen Seite die Kapitalverluste, die Enteignungen und die Vertreibung der Betriebe und ihrer Eigentümer und auf der anderen Seite einen Aderlaß bei den Freien Berufen, Anwälten, Ärzten und so weiter. Gott sei Dank hat sich in Sachsen aber ein Rest an industrieller und mittelständischer Tradition gehalten, so daß im kleinmittelständischen Bereich Anknüpfungs- punkte da waren. Ein Land mit dieser industriellen Tradition hatte natürlich dadurch einen starken Vorteil vor Regionen, die mehr landwirtschaftlich geprägt waren. Im Norden der DDR spielte die industrielle, gewerbliche Entwicklung nicht diese Rolle wie im Süden, also in Sachsen und Thüringen. Die Unterschiede in der Entwicklung hängen, so glaube ich, mit den unterschiedlichen Voraussetzungen, aber auch mit den Menschen zusammen. Wenn eben eine gewisse Prägung aus der Vergangenheit da ist, ist es leichter, darauf aufzubauen.

Der Aufbau Ost ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem, er muß auch in den Köpfen und Herzen stattfinden. In letzter Zeit fällt auf, daß zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen über Parteigrenzen hinweg im Wahlkampf viel Stimmung gemacht wird nach dem Muster: Wir haben da genug Milliarden rübergeschoben und jetzt sollen die mal selber sehen, wie sie weiterkommen - wir brauchen unser Geld selber. Macht sich hier Stimmungsmache bemerkbar?

Milbradt: Es ist sicherlich so, daß beim Blick auf diese 15 Jahre seit der Wiedervereinigung der eine oder andere - das gilt für Ost wie West - die Erfolge als selbstverständlich ansieht, die Probleme hingegen überzeichnet. Vor allen werden Dinge, die mit der Wiedervereinigung nur bedingt etwas zu tun gehabt haben, dann auch diesem Prozeß zugeordnet. Als Grund für die Tatsache, daß wir in Deutschland, speziell in Westdeutschland in den letzten 15, 20 Jahren wirtschaftlich nicht mehr die Dynamik hatten wie in Westdeutschland in den 50er und 60er Jahren, wird die Finanzierung der deutschen Einheit angesehen. Da wird also im Grunde genommen ein falscher Zusammenhang hergestellt, und es besteht die Gefahr, daß solche Vorurteile für Wahlkampfzwecke ausgenutzt werden. Ich hoffe, daß das Einzelfälle bleiben werden, und ich hoffe, daß die Wiedervereinigung später einmal als Höhepunkt unserer Geschichte angesehen wird. Wenn man sich ansieht, wieviel Geld vor 1989 allein für Verteidigung ausgegeben worden ist, oder das Geld, das notwendig war, um eben mit der Situation eines geteilten Landes fertig zu werden, da soll man doch jetzt glücklich sein, daß man diese Mittel jetzt im Osten sinnvoll verwenden kann.

Herr Milbradt, in Dresden hat es am 60. Jahrestag der Zerstörung der Stadt durch alliierte Bomber auch unangenehme Randerscheinungen sowohl von rechtsaußen als auch von linksaußen gegeben. Sind die demokratischen Parteien damit angemessen umgegangen?

Milbradt: Es hat sich in Dresden eine vorbildliche Erinnerungskultur herausgebildet. Sie stand in DDR-Zeiten stark unter dem Einfluß der Kirchen: Man gedachte der Toten in Dresden, der Zerstörung dieser Kunst- und Kulturstadt, und das ist heute noch deutlich spürbar, mehr als in anderen Städten. Aber man hat diese Zerstörung nicht als etwas Singuläres angesehen, was nur dieser Stadt passiert ist, sondern man hat es sehr frühzeitig in einen größeren Zusammenhang gestellt. Ich empfinde es als eine großartige Geste, daß in diesem Jahr der englische und der amerikanische Botschafter gekommen sind und an dem Mahnmal für die toten Dresdner, Kränze niedergelegt haben. Das heißt, daß auch das Bedauern der Kriegsgegner über diese Zerstörung da ist. Der Vorwurf von Rechtsaußen, von der NPD, der deutschen Opfer werde nicht gedacht, ist falsch. Und natürlich sind die Provokationen einiger zugereister Links-chaoten genauso wenig akzeptabel. Die Frauenkirche ist für mich zum einen ein Zeichen der Zerstörung dieser Stadt, auf der anderen Seite aber auch ein Symbol für Wiederaufbau, aber auch für Aussöhnung - immerhin ist das Kreuz von englischen Goldschmieden gefertigt worden und bezahlt mit Spenden aus England.

In der DDR waren ja sehr viele aus dem Osten Vertriebene geblieben, die sich jahrzehntelang nicht als Vertriebene, als Ostdeutschland, Schlesier oder Pommern zeigen durften. Inwieweit hat sich das normalisiert, ist das ein Stück gelungener Vergangenheitsbewältigung, was jetzt den zweiten Teil der Vergangenheit betrifft?

Milbradt: Die DDR hat ja die Flucht, Vertreibung mit dem Begriff "Umsiedler" versucht zu verdecken oder den eigentlichen Vorgang zu verharmlosen; offiziell ist überhaupt nicht darüber geredet worden. Ich erinnere mich sehr gut an meinen ersten Fahrer, der kam aus Königsberg und hat einmal zu mir gesagt, daß er erst nach der Wiedervereinigung über sein Lebensschicksal offen reden durfte. Ich glaube schon, daß es ein Fortschritt ist, daß über diese Zeiten jetzt offener gesprochen wird. Das ist ein guter Weg.

Sie regieren seit der letzten Landtagswahl mit einer großen Koalition. Wie sind Ihre Erfahrungen bisher?

Milbradt: Beide Parteien waren auf diese Koalition nicht vorbereitet. Das Wahlergebnis hat nur diese Koalition zugelassen, und beide Parteien haben die staatsbürgerliche Notwendigkeit gesehen, trotz ihrer oft unterschiedlichen Parteiprogrammatik zu demonstrieren, daß die demokratische Mitte in der Lage ist zu regieren. Wenn das nicht gelungen wäre, hätten wir nur den Radikalen auf der Rechten - und auch der PDS - Vorschub geleistet.

Könnten Sie sich vorstellen, daß auch auf Bundesebene eine große Koalition, zumindest für begrenzte Zeit, zur Lösung bestimmter Probleme ein Modell wäre?

Milbradt: Natürlich, man soll nie nie sagen. Die demokratischen Parteien müssen alle untereinander koalitionsfähig sein.

Welche Rolle spielt für Sie die Familienpolitik in der aktuellen Tagespolitik, aber auch langfristig?

Milbradt: Die Familie ist für mich die Basis der Gesellschaft. Deswegen spielt sie eine wichtige Rolle. Viele Funktionen werden in der Familie wahrgenommen: Erziehung der Kinder, aber auch Pflege Älterer, und das muß vom Staat anerkannt werden. Aber ich glaube, das muß auch in den Köpfen der Menschen stärker ins Bewußtsein gerückt werden, bis hin zur Frage der Akzeptanz von Kindern. Kinder sind etwas Fröhliches, etwas Lebendiges, nicht etwas Störendes. Kinder garantieren das Überleben einer Gesellschaft. Ohne Kinder sterben wir aus. Daher mache ich mir angesichts der dramatischen Verände- rung unserer Bevölkerungsstruktur - gerade hier in Sachsen - große Sorgen.

Und was bedeuten Ihnen als sächsischer Ministerpräsident die sogenannten preußischen Tugenden?

Milbradt: Pünktlichkeit, Ordnung, Fleiß, Zuverlässigkeit - das sind Tugenden, die für jede Gesellschaft sinnvoll sind. Solche preußischen Tugenden - ich könnte auch sagen: sächsische Tugenden - sind hier vielleicht stärker ausgebildet als im Westen, wo es eine starke Individualisierung der Gesellschaft, ja geradezu eine Ellbogengesellschaft gibt. In der Biographie der Menschen in der DDR hat es eben auch Dinge gegeben, die für ganz Deutschland von Interesse sind.

Danke für das Gespräch!

Stolz auf sein Elbflorenz: Georg Milbradt (r.) gewährt dem Chefredakteur derNina Schulte exklusive Ein- und Ausblicke in seine Regierungsarbeit. 
 
     
     
 
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