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Trübes Wasser: Verfolgt verjagt vergessen - die ukrainische Volksgruppe in Polen

 
     
 
Polen hat es verstanden, in den Augen der Weltöffentlichkeit, speziell der Deutschen, als eine Nation zu gelten, die in den Strudel der politischen Ereignisse dieses Jahrhunderts geraten ist, ohne daß auf das Land irgendein Schatten fällt. Viele meinen, daß Polen keinerlei Mitverantwortung trägt, daß es nichts sei als ein Opfer. Damit hat sich die offizielle polnische Sicht der Zeitgeschichte zumindest bei den Deutschen durchgesetzt, was dazu geführt hat, daß ein offenbar kaum versiegbarer Strom der Wiedergutmachung
nach Polen fließt.

Erst bei genauerer Betrachtung stellt sich die polnische Geschichte nach der Wiederherstellung des polnischen Staates 1916 ganz anders dar.

In der Erinnerung an die Führungsrolle, die das polnisch-litauische Reich im 15. Jahrhundert in Osteuropa spielte – es reichte von der Ostsee bis ans Schwarze Meer –, strebte die polnische Führungsschicht nach dem Ersten Weltkrieg ein Großpolen ohne Rücksicht darauf an, daß die beanspruchten Gebiete von Polen nicht oder nur spärlich besiedelt waren. Die Niederlage Deutschlands und Österreichs begünstigte den polnischen Expansionsdrang.

Die Siegermächte schlugen die bis dahin zum Deutschen Reich gehörenden Gebiete Westpreußens und Posens ohne Volksabstimmung dem neuen polnischen Staat ebenso zu wie das Industriegebiet Ostoberschlesiens. Damit und mit den traditionellen deutschen Siedlungsgebieten in Mittelpolen, Galizien und Wolhynien, in denen Deutsche verstreut seit dem 12. und 13. Jahrhundert lebten, beherbergte Polen eine starke deutsche Minderheit, die Anfang der 20er Jahre auf etwa zwei Millionen geschätzt wurde.

Viel größer aber war eine andere nichtpolnische Volksgruppe: die Ukrainer im Südosten Polens. Sie umfaßte vier bis sechs Millionen Menschen, die geschlossen in der Westukraine lebten. Dieses Gebiet hatte sich Polen 1920 mit Waffengewalt einverleibt. Die von Bürgerkriegen zerrüttete Sowjetunion mußte der Abtretung 1921 zustimmen. Die nunmehr zu polnischen Staatsbürgern gewordenen Ukrainer fanden sich niemals mit der Trennung vom Mutterland ab und bildeten fortan in Polen einen Unruheherd. Immer wieder aufklackernde ukrainische Aufstände wurden von der polnischen Armee niedergeschlagen. Die Ukrainer galten in den zwanziger und dreißiger Jahren in Polen als "Staatsfeind Nr. 1".

Die polnischen Regierungen zwischen den Weltkriegen verfolgten eine Volkstumspolitik mit dem Ziel, "Polen so rein wie ein Glas Wasser" werden zu lassen, wie es der polnische Kultusminister und spätere Ministerpräsident Grabski bereits 1919 postulierte, das hieß, die nichtpolnischen Bevölkerungsanteile sollten beseitigt werden. Den Deutschen gegenüber wollte man das erreichen, indem man Polen "entdeutschte", d. h., die Deutschen so unter Druck setzte, daß sie möglichst auswanderten. Darin war man erfolgreich: zwischen 1918 und 1934 wanderten über 700 000 Deutsche aus Polen ab. Von Anfang 1939 bis zum Kriegsbeginn flohen weitere Deutsche ins Reich; bis Mitte August beherbergten die in Deutschland eingerichteten Flüchtlingslager schließlich ca. 70 000 Volksdeutsche, die den polnischen Schikanen entflohen waren. Weitere 18 000 deutsche Flüchtlinge befanden sich in den Aufnahmelagern der damaligen "Freien Stadt Danzig". Den Ukrainern gegenüber verfolgte die polnische Regierung eine andere Politik. Da die Ukrainer Slawen waren, hoffte Warschau, sie polonisieren zu können. Das schlug fehl. Die Ukrainer beharrten auf ihrem Volkstum und waren angesichts der Tatsache, daß sie in geschlossenen Siedlungsgebieten lebten, auch erfolgreich.

Im Zweiten Weltkrieg strebten die polnischen Exilregierungen, gleichgültig ob die von britischen Gnaden in London residierende oder die von Moskau ausgehaltene, wiederum einen polnischen Staat mit möglichst einheitlicher polnischer Nationalität an. Daher schloß die polnische Exilregierung in Moskau im September 1944 einen Vertrag mit der UdSSR, der das Ziel hatte, nach dem Kriege die Bevölkerungen auszutauschen: die Sowjetunion wollte das ihnen 1920/21 entrissene Gebiet der Westukraine von Polen zurückhaben, um sodann jene Polen, die noch dort lebten, zu bewegen, freiwillig nach Polen umzusiedeln, während andererseits die Reste der ukrainischen Volksgruppe in Polen – ebenfalls freiwillig – in die Sowjetrepublik Ukraine ziehen sollten. Zwar gingen nach der deutschen Niederlage die Polen aus der wieder sowjetisch gewordenen Westukraine in großer Zahl nach Polen, doch war die Hoffnung, die Masse der Ukrainer zu bewegen, aus dem polnisch gebliebenen Gebiet in die Sowjetukraine umzuziehen, ohne hinreichenden Erfolg.

Darauf wurden zwischen Oktober 1944 und August 1946 insgesamt 482 000 Ukrainer aus Polen in die UdSSR zwangsumgesiedelt. Nach dem Willen Warschaus sollten nur Ukrainer aus polnisch-ukrainischen Mischfamilien zurückbleiben. Diese Rechnung ging indes wieder nicht auf. Viele Ukrainer entzogen sich der Zwangsumsiedlung, so daß ein erheblicher ukrainischer Bevölkerungsanteil in Polen verblieb.

Die polnische Führung, auch wenn sie jetzt kommunistisch war, hielt aber weiterhin nichts von einer "multikulturellen" Gesellschaft. Die ukrainische Minderheit, die zwischen den beiden Kriegen so viele Schwierigkeiten gemacht hatte, sollte endgültig zerschlagen werden.

Inzwischen war Polen erfolgreich gewesen in seinen Bestrebungen, die alte deutsche Minderheit in Polen entweder umzubringen oder zu vertreiben. Sie gab es fast nicht mehr. Und es gelang den Polen auch, die nunmehr annektierten und ihnen von den Siegermächten zugesprochenen, nahezu rein deutschen Gebiete wie das südliche Ostdeutschland, Hinterpommern, Ost-Brandenburg und Schlesien weitgehend mit den erprobten Gewaltmaßnahmen menschenleer zu machen. Da lag die Idee nahe, die so unbequeme ukrainische Minderheit aus ihren angestammten Gebieten umzusiedeln in die alten deutschen Gebiete. Freiwillig aber folgten die Ukrainer diesen Vorstellungen nicht.

So beschloß das Präsidium des polnischen Ministerrates am 24. April 1947 die Durchführung der Deportation "Aktion Weichsel" ("akcja Wisla"/"Operation Vistula") unter dem Kommando des polnischen Generals Stefan Mossor. Die noch in ihrer Heimat lebenden Ukrainer sollten nun mit Gewalt ausgesiedelt und in den deutschen Gebieten wieder angesiedelt werden.

Dagegen wandte sich die ukrainische Partisanenarmee UPA. Sie kämpfte seit mehreren Jahren sowohl gegen die Sowjets als auch gegen die Deutschen und gegen die Polen. Ihr Ziel war eine selbständige unabhängige Ukraine. UPA-Freischärler riefen ihre ukrainischen Landsleute auf, sich der Deportation zu entziehen. Es gelang der Partisanentruppe, den polnischen General Zwierczewski zu töten, was das Politbüro des Zentralkomitees der polnischen kommunistischen Arbeiterpartei den Vorwand lieferte, nunmehr die Gewaltmaßnahmen gegen die ukrainische Bevölkerung als Vergeltungsmaßnahme zu deklarieren. Das polnische Ministerium für öffentliche Sicherheit, das Ministerium für die "wiedergewonnenen Gebiete" (gemeint waren die okkupierten ostdeutschen Gebiete) und der Generalstab der polnischen Armee wirkten in der "Aktion Weichsel" zusammen.

Fünf Infanteriedivisionen, fünf unabhängig operierende Infanterieregimenter, eine Division von Sicherheitskräften und dazu mehrere Spezialeinheiten wurden eingesetzt, um 150 000 widerspenstige Ukrainer nicht nur zu deportieren, sondern bei der Gelegenheit auch die ukrainische Volksgruppe zu zerschlagen. Dazu dienten folgende Maßnahmen: Nie durften mehr als drei ukrainische Familien in einem deutschen Dorf angesiedelt werden, wobei jede Familie aus einem anderen Ort stammen mußte. Es war ihnen verboten, diese Orte wieder zu verlassen. Untersagt wurde es den Ukrainern, ihre Religion – sie sind in ihrer Mehrzahl griechisch-katholisch – auszuüben. Ukrainer durften sich nicht in Städten niederlassen. Untericht in ukrainischer Sprache wurde von den Polen ebenso wie die Heimkehr der Ukrainer in ihre Heimatgebiete verboten.

In der Regel blieben den ukrainischen Familien nicht mehr als zwei Stunden Zeit, um sich auf den zwangsweisen Abtransport vorzubereiten. Wer sich widersetzte, wurde kurzerhand erschossen.

Um jedem organisierten Widerstand die Spitze abzubrechen, wurde die Führungsschicht der Ukrainer – Geistliche, Lehrer, Professoren usw. – festgenommen und nach einer Selektion auf der Rampe des KZ Auschwitz (das nun Oswiecim hieß) in das KZ Jaworzlo gebracht, das eine Außenstelle des KZ Auschwitz gewesen war. Es sollen etwa 4000 Personen gewesen sein.

Das Eigentum, das die Ukrainer zurücklassen mußten, wurde vom polnischen Staat beschlagnahmt. Hunderte von ukrainischen Dörfern, die nunmehr menschenleer waren, wurden von den Polen dem Erdboden gleichgemacht, zahlreiche Kirchen auf Geheiß Warschaus verwüstet. Von den 145 griechisch-katholischen Kirchen der Ukrainer sind heute nur noch 60 vorhanden. Wie viele Opfer diese Vertreibungsaktion forderte, kann heute nicht mehr ermittelt werden. Viele Ukrainer versuchten, sich der Zwangsumsiedlung zu entziehen. Sie versteckten sich, kehrten heimlich zurück. Eine unbekannte Zahl wurde dabei vom polnischen Sicherheitskräften liquidiert.

1995 stellte der Woiwodschafts-Staatsanwalt Kattowitz Ermittlungsverfahren wegen der in Auschwitz von den Polen begangenen Verbrechen an und konstatierte anschließend, daß es sich um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehandelt habe. Die polnische Staatsanwaltschaft gab zu, daß "durch Folter" 161 ukrainische Geistliche, Professoren usw. in Auschwitz zu Tode gebracht worden sind.

Es ist trotz allem nicht gelungen, die Ukrainer zur Aufgabe ihres Volkstums zu zwingen. In den alten deutschen Gebieten lebt noch heute verstreut eine ukrainische Volksgruppe, die etwa 300 000 Menschen umfaßt und die nunmehr darauf besteht, daß das an ihnen begangene Unrecht wiedergutgemacht wird. Sie fordern die ihnen geraubten Grundstücke in ihrer ukrainischen Heimat zurück, wollen ihre Kirchen wiederhaben und verlangen das polnische Eingeständnis der Verbrechen.

Es dürfte verständlich sein, daß das Verhältnis zwischen Ukrainern und Polen gespannt ist. Zwar versuchen die Staatsführungen Polens und der nunmehr unabhängigen Ukraine eine Entspannung herbeizuführen, wobei sie sich auf das Beispiel der deutsch-französischen Aussöhnung berufen, doch stehen dem die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit entgegen. 1996 verboten polnische Behörden den Ukrainern, den im Zweiten Weltkrieg auf polnischem Gebiet gefallenen und dort bestatteten Kämpfern der ukrainischen Aufstandsarmee UPA Grabsteine und Denkmäler zu errichten. Andererseits brandeten die Wellen der Empörung hoch, als Polen auf ukrainischem Gebiet eine Gedenkstätte für gefallene Polen errichten wollten, die 1918 gegen Ukrainer gekämpft hatten.

Nachdem Polen die Aufarbeitung der schrecklichen Ereignisse jahrzehntelang unterdrückt hat, kommen nun die Tatsachen allmählich zu Tage, was die Erregung und Verbitterung unter den Ukrainern wachsen läßt. Auf die Wiedergutmachung warten die Ukrainer bislang vergebens. Warschau beließ es bei der verbalen Verurteilung der "Aktion Weichsel" durch den Senat der Republik Polen, der zweiten Kammer. Taten folgten nicht.

Zwar haben der Präsident Polens, Kwasniewski, und der Präsident der Ukraine, Kutschma, im Mai 1997 eine Versöhnungserklärung unterzeichnet, doch hat das an dem gespannten Verhältnis zwischen den beiden Volksgruppen in Polen kaum etwas geändert. Die Wunden der jahrzehntelang unterdrückten Ukrainer sind noch lange nicht vernarbt.

 
     
     
 
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