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Zukunftsängste polnischer Landwirte und das Feindbild EU

 
     
 
Der Versuch eines Staatsstreiches in Rumänien, bei dem die militärisch organisierten Bergarbeiter des Gewerkschaftsführers Cozma das Fußvolk und die Funktionäre der nationalchauvinistischen Großrumänischen Partei die Kommandoebene bildeten, konnte gerade noch einmal abgewehrt werden. Nun gibt es auch in der Republik Polen erbitterte Proteste, wenngleich die Mitte-Rechts-Regierung in Warschau sicherlich nicht um den Machterhalt
kämpfen muß.

Ende Januar haben unter Leitung Andrzej Leppers, des charismatisches Vorsitzenden der Interessenvertretung "Samoobrona" (Selbstverteidigung), die Bauerndemonstrationen begonnen. Zu den regionalen Schwerpunkten gehören u. a. Schlesien und Pommern. Über 150 Überlandstraßen und mehrere Grenzübergänge in die Bundesrepublik Deutschland wurden blockiert.

An einigen Orten kam es zu Straßenschlachten mit der Polizei, bei denen die aufgebrachten Landwirte nicht nur Güllespritzen, sondern auch Molotowcocktails einsetzten.

Das Strukturproblem, das den Hintergrund dieser Unruhen bildet, ist noch weitaus schwerwiegender als die Frage der Schließungen überalterter und völlig unrentabler Zechen in Rumänien. Die Landwirtschaft ist für die polnische Ökonomie ein enorm wichtiger Sektor, dessen Bedeutung allein angesichts des Umfangs der bäuerlichen Nutzflächen mit dem keines anderen ostmitteleuropäischen EU-Anwärters zu vergleichen ist.

Im Jahr 1996 umfaßten diese Böden auf polnischem Staatsgebiet rund 18 474 000 ha; in Rumänien wurden 1996 immerhin 14 797 000 ha landwirtschaftlich genutzt, in Ungarn nur 6 184 000 ha, in Tschechien 4 280 000 ha und in der Slowakei 2 444 000 ha. In der Bundesrepublik werden knapp 12 000 000 ha bäuerlich bewirtschaftet.

Derzeit arbeiten in Polen in zwei Millionen landwirtschaftlichen Betrieben, die sich sich zu 93 Prozent in Privatbesitz befinden, insgesamt 3,8 Millionen Menschen. Allerdings handelt es sich nur bei 960 000 dieser Höfe um Vollerwerbs-Betriebe (in der Bundesrepublik Deutschland sind es 560 000 Höfe). Während in Polen 26,9 Prozent (1995) aller Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig sind, liegt die entsprechende Zahl für die Tschechische Republik bei 6,3 Prozent (1995), für Slowenien bei 7,1 Prozent (1995), Ungarn 8 Prozent (1995), Slowakei 9,7 Prozent (1995), Estland 10,5 Prozent (1996), Lettland 15,5 Prozent (1995) und für Rumänien bei 34,3 Prozent (1994). Die Quote für die Bundesrepublik beläuft sich auf gut 5 Prozent, was ziemlich genau dem Durchschnittswert der derzeitigen EU-Mitgliedsstaaten entspricht.

Nach 1988 hat es sogar einen Anstieg der Beschäftigtenzahlen in der polnischen Landwirtschaft um 11,3 Prozent gegeben. Viele entlassene Industriearbeiter fanden hier neue Betätigungsfelder.

In bezug auf den Anteil des landwirtschaftlichen Sektors am Bruttoinlandsprodukt belegt die Republik Polen mit 8 Prozent einen mittleren Platz zwischen den Extremen Rumänien (20,5 Prozent) auf der einen und Slowenien (5 Prozent) auf der anderen Seite. In der Bundesrepublik liegt die Quote bei 1,8 Prozent.

Ähnlich wie bei den anderen EU-Erweiterungskandidaten Estland, Tschechien, Slowenien und Ungarn liegen mittlerweile auch in Polen

 

 

die Preise für Agrarprodukte trotz geringerer Löhne vielfach höher als in den 15 aktuellen Mitgliedsländern. Zugleich fließen in den Reformstaaten spärlichere staatliche Unterstützungsleistungen als in der EU – in Polen sogar etwa 50 Prozent weniger, wenngleich im Zuge einer Annäherung an die "Gemeinsame Agrarpolitik" der Union seit ein paar Jahren ein Plus an Subventionen und Importschutz-Maßnahmen zu verzeichnen ist.

Vor diesem Hintergrund gibt es unter polnischen Bauern durchaus Hoffnungen, als Folge eines EU-Beitritts vielleicht noch größere Subventionen einheimsen zu können. Andererseits hat man natürlich auch zwischen Weichsel und Bug von der in Brüssel diskutierten Ausklammerung der EU-"Neulinge" von den anvisierten Ausgleichszahlungen für Landwirte (anstelle der alten Preissubventionen) gehört.

Für viele polnische Landwirte sind die EU-Agrarbürokraten und die Europäische Union insgesamt jedoch eindeutige Feindbilder. Man klagt über Billigimporte aus EU-Staaten und den USA, namentlich über die Einfuhr großer Mengen von Getreide und hochsubventioniertem Schweinefleisch. Hier soll die Regierung in Warschau für Abhilfe sorgen – sprich: Importverbote erlassen, die eigene Schweinefleischproduktion stärker bezuschussen und Fleisch, Milch und Getreide zu, so Lepper, "rentablen Preisen aufkaufen".

Ohne verstärkte Schutzmaßnahmen und die Streichung von nach der Wende angehäuften Kreditschulden gerade der moderner ausgerüsteten Betriebe erscheint es den erbosten Bauern – nicht ganz zu Unrecht – schwer vorstellbar, der höchst effektiv arbeitenden Konkurrenz aus dem Westen zu widerstehen. Polen-Reisende werden sich an die "romantischen" Bilder von Bauern erinnern, die ihr bißchen Land (derzeit liegt die durchschnittliche Hofgröße bei 7 ha Nutzland) noch mit Pferd und Pflug beackern.

Ebenso wie in Deutschland und anderen hochindustrialisierten EU-Staaten haben auch etliche Bauern in Polen einen sozialen Abstieg hinter sich. Am Beginn der allmählichen Deklassierung der von der Übernahme jeglichen Risikos durch den sozialistischen Staat verwöhnten Bauern standen die Freigabe der Lebensmittelpreise 1989 sowie der Zusammenbruch der alten Absatzmärkte im Osten. Bereits seit 1991 werden mehr landwirtschaftliche Erzeugnisse ein- als ausgeführt.

Lagen die bäuerlichen Einkommen in Polen vor dem Umbruch eher höher als die der Städter (ca. 62 Prozent der Bevölkerung), so hatten sie sich bereits 1991 auf nur mehr knapp die Hälfte des Durchschnittswerts bei der städtischen Bevölkerung verringert und erreichten 1998 ihren bisherigen Tiefststand.

Hiesige Kommentatoren machen es sich leicht, wenn sie die mangelnde "Einsicht" polnischer Bauern in die "Unabänderlichkeiten" moderner Wirtschaftspolitik anprangern. Zweifellos ist dort ein gewisser Abbau der überdimensionierten, oft noch "vorsintflutlichen" Landwirtschaft notwendig. Doch zugleich berührt der Existenzkampf polnischer Bauern die komplizierte Problematik, wie international die Landwirtschaft der Zukunft aussehen soll. Hier stellt sich die Kardinalfrage nach dem Preis, den man für gesunde, verbrauchernah hergestellte und damit "ökologisch" wertvolle Lebensmittel zu zahlen bereit ist.

Die EU-Osterweiterung um stark agrarisch geprägte Staaten wie die Republik Polen wird auf jeden Fall jene Stimmen in Europa verstärken, die wirksame Maßnahmen gegen die Überschwemmung der europäischen Märkte mit amerikanischen Agrarprodukten bzw. Erzeugnissen aus hocheffizienten, aber qualitativ bedenklichen Agrarfabriken made in Europe fordern. Auch werden polnische Politiker auf EU-Ebene für einen weitestgehenden Erhalt der mittleren und kleineren Höfe und gegen einen noch größeren Verfall der ohnehin niedrigen Lebensmittelpreise eintreten.

Es ist nun mal so, daß die Masse der mitteleuropäischen Bauern angesichts der hiesigen Arbeitskosten im Agrarsektor nicht für Weltmarktpreise arbeiten kann. Dies muß man sich vergegenwärtigen, wenn Euro-Strategen in Brüssel beabsichtigen, die Garantiepreise für Getreide, Fleisch und Milch schrittweise auf Weltmarktniveau zu senken.

Zumindest die polnischen Bauern lassen sich garantiert nicht so brav zur "Schlachtbank" führen, um ihre Existenz auf dem Altar der "Globalisierung" zu opfern, wie dies bei den deutschen Bauern der Fall gewesen ist. Schon jetzt dürften sie dafür gesorgt haben, daß ihre Anliegen bei der für Ende März auf dem Brüsseler Sondergipfel anstehenden Beschlußfassung über die Reform der EU-Agrar- und Strukturfonds ("Agenda 2000") noch mehr in die Überlegungen einbezogen werden, als dies ohne den massiven Protest der Fall gewesen wäre.

 
     
     
 
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